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Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville - Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes - Der Hund von Baskerville

von Arthur Conan Doyle

'Ich habe in meiner Tasche ein Manuskript!' sagte Doktor James Mortimer. 'Ich bemerkte es, als Sie das Zimmer betraten', antwortete Holmes. 'Es ist eine alte Handschrift.' 'Aus dem Anfang des achtzehnten Jahrhunderts - falls nicht etwa eine Fälschung vorliegt.' 'Wie können Sie das so bestimmt sagen?' 'Sie haben mich die ganze Zeit über ein paar Zollbreit davon sehen lassen, so daß ich es prüfen konnte. Das wäre ein armseliger Sachverständiger, der nicht auf ein Jahrzehnt oder so das Datum eines Dokuments bestimmen könnte. Vielleicht haben Sie meine Abhandlung über diesen Gegenstand gelesen. Ich schätze, daß das Manuskript um das Jahr 1730 geschrieben ist.' 'Die genaue Jahreszahl ist 1742.' Dr. Mortimer zog das Manuskript aus der Brusttasche hervor und fuhr fort:

'Dieses Familienpapier wurde mir von Sir Charles Baskerville anvertraut, dessen plötzlicher, tragischer Tod vor etwa drei Monaten in der Grafschaft Devon so großes Aufsehen machte. Ich darf wohl sagen, daß ich nicht nur sein ärztlicher Berater, sondern auch sein persönlicher Freund war. Er war ein stark geistiger Mann, schlau, weltklug und so wenig zu Einbildungen geneigt wie ich selber. Trotzdem nahm er es mit diesem Schriftstück sehr ernst, und er war innerlich auf genau so einen Tod vorbereitet, wie er ihn schließlich erlitt.' Holmes streckte die Hand nach dem Manuskript aus und breitete es auf seinem Knie aus. 'Du wirst bemerken, Watson, daß der Buchstabe s abwechselnd lang oder kurz geschrieben ist. Das ist eines von mehreren Anzeichen, die es mir ermöglichten, die Entstehungszeit zu bestimmen.' Ich betrachtete über seine Schulter hinweg das vergilbte Papier und die verblaßte Schrift. Am Kopfende stand geschrieben: 'Baskerville Hall' und unten in großen kritzeligen Zahlen: '1742'. 'Es scheint so eine Art von Erzählung zu sein.' 'Ja, es ist die Erzählung einer Sage, die in der Familie Baskerville im Schwung ist.' 'Aber ich verstehe Sie doch recht - Sie wünschen mich doch in einer etwas moderneren Angelegenheit des wirklichen Lebens um Rat zu fragen?' 'In einer höchst modernen! Und in einer sehr dringlichen Angelegenheit, die binnen vierundzwanzig Stunden zur Entscheidung gebracht werden muß. Aber das Manuskript ist nur kurz und steht in innigem Zusammenhang mit der Geschichte. Mit Ihrer Erlaubnis will ich's Ihnen vorlesen.' Holmes lehnte sich in seinen Stuhl zurück, faltete die Hände und schloß die Augen mit der Miene eines Mannes, der sich in sein Schicksal ergibt. Dr. Mortimer hielt das Manuskript so, daß er gutes Licht hatte, und las mit lauter, piepsiger Stimme die nachstehende Geschichte aus alter Zeit:

'Von dem Ursprung des Hetzrüden der Baskervilles hat man gar vielerlei erzählt, aber da ich in gerader Linie von Hugo Baskerville abstamme, und da ich die Geschichte von meinem Vater habe, der sie von dem seinigen überliefert erhielt, so habe ich sie hier niedergeschrieben und bin des festen Glaubens, sie hat sich so zugetragen, wie ich nunmehr berichten will. Und ich bitte euch, meine Söhne, ihr wollet glauben, daß eben die selbige Gerechtigkeit, so die Sünde bestrafet, wohl auch in überreicher Gnade sie vergeben möge, und daß kein Fluch so schwer sei, er könne nicht durch Gebet und Reue gesühnt werden. Entnehmt also aus dieser Geschichte die Lehre, daß ihr euch nicht fürchtet, die Verbrechen der Vergangenheit möchten für euch schlimme Früchte hervor bringen, sondern daß ihr vielmehr fortan wollt recht bedachtsam sein, auf daß die verruchten Leidenschaften, die unserer Familie so schweren Harm zugefügt, nicht abermals zu unserem Schaden mögen entfesselt werden. Wisset also, daß zu den Zeiten der großen Revolution - deren Geschichte, wie der gelehrte Lord Clarendon sie beschrieben, ich euch recht angelegentlich zum Lesen empfehle - dieses Herrenhaus Baskerville bewohnt wurde von Herrn Hugo des selbigen Namens; und es kann nicht verschwiegen werden, daß er ein sehr wilder, verruchter und gottloser Mann war. Dieses hätten nun wohl seine Nachbarn ihm verzeihen mögen, zumal in hiesiger Gegend Heilige niemals haben gedeihen wollen; aber es war an seiner Wildheit ein gewisser mutwilliger und grausamer Humor, und dadurch wurde sein Name im ganzen Westen bekannt. Nun begab es sich, daß dieser Hugo zu der Tochter eines Landmanns, der an der Grenze der Baskervilleschen Güter seinen Bauernhof hatte, in Liebe entbrannte - wenn man eine so finstere Leidenschaft wie die seinige mit einem so leuchtenden Wort bezeichnen darf. Aber die junge Maid, die züchtig und von gutem Ruf war, wich ihm stets aus, denn sie fürchtete seinen bösen Namen. Es begab sich aber, daß am Michaelistag dieser Hugo nebst fünf oder sechs von den verruchten Genossen seiner Schwelgereien sich in das Bauernhaus schlich und das Mädchen entführte; ihr Vater aber und ihre Brüder waren nicht zu Hause, wie er sehr wohl wußte. Und sie brachten sie ins Schloß, und die Jungfrau wurde in ein Zimmer im obersten Stockwerk eingeschlossen; Hugo aber und seine Freunde saßen nieder zu einem langen Zechgelage, wie sie allnächtlich zu tun pflegten. Da mochten wohl der armen Dirne da oben die Sinne schwinden, als sie das Singen und Toben und fürchterliche Fluchen hörte, das von unten heraufscholl - denn man sagt, solche Worte, wie Hugo Baskerville sie im Weinrausch äußerte, die brächten den Mann, der sie spräche, sicherlich in die Hölle. Und zuletzt tat sie in der Verzweiflung ihrer Angst etwas, wovor wohl der tapferste und gewandteste Mann möchte zurückgeschaudert sein; denn mit Hilfe des Efeugerankes, das, die Mauer bedeckte - und noch bedeckt -, klomm sie von der Höhe dicht unter dem Dach hinunter zum festen Boden, und dann rannte sie nach Hause quer über das Moor. Der Weg aber von dem Schloß bis zu ihres Vaters Hof war drei Stunden weit. Und es begab sich, daß kurze Zeit darauf Hugo seine Gäste verließ, um seiner Gefangenen Speise und Trank zu bringen - und vielleicht wollte er noch Schlimmeres -, und daß er den Käfig leer und den Vogel entflohen fand. Da war es gleich, als käme der Teufel über ihn, denn er lief die Treppen hinunter in den Speisesaal und sprang auf den großen Tisch, daß Flaschen und Teller herunterfielen, und schrie laut vor der ganzen Gesellschaft, er wolle noch in selbiger Nacht Leib und Seele den bösen Mächten zu eigen geben, wenn er nur die Dirne wieder einholte. Entsetzt starrten die Zechbrüder auf den rasenden Mann, einer aber, der noch verruchter oder vielleicht auch nur trunkener war als die anderen, rief, sie sollten die Hunde auf sie hetzen. Und Hugo lief aus dem Haus und rief seinen Stallknechten zu, sie sollten seine Stute satteln und die Hunde aus dem Zwinger lassen; er zeigte diesen ein Halstuch des Mädchens, und mit lautem Gekläff ging es im Mondschein über das Moor. Eine Zeitlang waren die Zechkumpane ganz starr vor Verblüffung; sie vermochten die Vorgänge, die sich mit solcher Schnelligkeit abgespielt hatten, nicht zu begreifen. Aber allmählich dämmerte ihnen in ihren umnebelten Schädeln eine Ahnung auf, was wohl auf dem Moor sich begeben würde. Und es erhob sich ein gewaltiger Lärm, die einen riefen nach ihren Pistolen, andere nach ihren Pferden, noch wieder andere schrien, es sollten neue Weinflaschen gebracht werden. Endlich jedoch wurden sie etwas vernünftiger, und die ganze Gesellschaft, dreizehn an der Zahl, stieg zu Pferde und ritt Herrn Hugo nach. Der Mond schien klar über ihren Häuptern, und sie sprengten in schnellem Lauf den Weg entlang, den das Mädchen genommen haben mußte, um ihr Haus zu erreichen. Sie waren eine oder zwei Meilen geritten, als sie einem jener Hirten begegneten, die nachts ihre Schafe über das Moor treiben; und sie riefen ihm zu, ob er den Reiter mit den Hunden gesehen hätte. Und der Mann, so berichtet die Überlieferung, war so von Furcht gelähmt, daß er kaum sprechen konnte; schließlich aber sagte er, er habe wirklich die unglückliche Jungfrau gesehen, und die Hunde seien ihr auf der Spur gewesen. ›Aber ich habe noch mehr gesehen als das!‹ sagte er, ›Denn Hugo Baskerville ritt an mir vorüber auf seiner schwarzen Stute, und hinter ihm rannte stumm solch ein Höllenhund, wie Gott ihn niemals mir auf die Fersen hetzen wolle!‹ Die trunkenen Herren aber fluchten auf den Schäfer und ritten weiter. Bald jedoch ging es ihnen kalt über die Haut, denn es galoppierte etwas über das Moor herüber, und die schwarze Stute raste, mit weißem Schaum bedeckt, mit schleifendem Zügel und leerem Sattel an ihnen vorüber. Da drängten die Zechbrüder sich eng aneinander, denn eine große Angst kam über sie; trotzdem ritten sie noch weiter, obwohl jeder von ihnen, wäre er allein gewesen, herzlich gern sein Pferd würde herumgeworfen haben. Langsam weiter reitend, trafen sie schließlich die Hunde. Diese lagen, obwohl berühmt wegen ihres edlen Geblüts und ihrer Tapferkeit, winselnd zu einem Klumpen zusammengedrängt am Eingang einer tiefen Schlucht; einige von ihnen schlichen sich gar zur Seite, die anderen starrten mit gesträubten Haaren und stieren Augen in das schmale Tal hinein, das vor ihnen lag. Die Gesellschaft hatte haltgemacht; die Herren waren, wie ihr euch denken könnt, jetzt nüchterner als beim Fortreiten. Die meisten wollten durchaus nicht weiter, aber drei von ihnen, die Kühnsten - oder auch die Betrunkensten -, ritten in die Schlucht hinein. Diese öffnete sich allmählich zu einem breiten Raum, wo zwei große Steine standen; sie stehen auch jetzt noch dort und sind von Menschen gesetzt worden, deren Gedenken seit langen Zeiten verschollen ist. Der Mond schien hell auf den freien Platz, und in der Mitte lag das Mädchen auf der Stelle, wo sie vor Angst und Ermattung tot hingesunken war. Doch nicht der Anblick des Leichnams, auch nicht der Anblick des Leichnams von Hugo Baskerville war es, was diesen drei gottlosen Wüstlingen das Haar emporsträubte. Aber über Hugo, dessen Kehle zerfleischend, stand ein grausiges Wesen, eine große schwarze Bestie von der Gestalt eines Hundes, nur viel größer als ein Hund, den je eines Sterblichen Auge erschaut hat. Und vor ihren entsetzten Augen riß das Tier dem Hugo Baskerville die Kehle auf, dann sah es mit triefenden Lefzen und glühenden Augen auf die Reiter; diese aber stießen ein gellendes Geschrei aus und sprengten, als gälte es das Leben, fortwährend schreiend über das Moor zurück. Einer, so erzählt man, starb noch in selbiger Nacht von dem Anblick, die anderen zwei aber waren gebrochene Männer für den Rest ihrer Tage. Dieses ist, meine Söhne, die Geschichte von der Herkunft des Hundes, der, wie man sagt, seitdem unsere Familie so grimmig verfolgt hat. Ich habe sie aber niedergeschrieben, weil etwas Bekanntes offensichtlich weniger Grauen einflößt als etwas, das nur mit Winken und Andeutungen einem zugetragen wird. Es läßt sich freilich nicht leugnen, daß mancher von unserer Familie eines unseligen Todes gestorben ist, daß viele plötzlich geheimnisvoll und auf eine blutige Art verschieden sind. Und doch mögen wir uns der unendlichen Güte der Vorsehung ruhig anheimgeben; sie wird niemals die Unschuldigen bestrafen über das dritte oder vierte Glied hinaus, wie die Drohung in der Heiligen Schrift lautet. Dieser Vorsehung, meine Söhne, empfehle ich euch hiermit, und ich rate euch, vorsichtig zu sein und dem Moor fernzubleiben in jenen finsteren Stunden, da die bösen Mächte ihr Spiel treiben. Dies schrieb Hugo Baskerville für seine Söhne Rodger und John. Und sie sollen ihrer Schwester Elisabeth nichts davon sagen.' Dr. Mortimer war mit dem Vorlesen der seltsamen Geschichte fertig; er schob seine Brille auf die Stirn hinauf und warf einen erwartungsvollen Blick auf Sherlock Holmes. Dieser gähnte, warf das Stümpfchen seiner Zigarette ins Feuer und sagte:

'Nun?' 'Finden Sie die Geschichte nicht interessant?' 'O ja, für einen Sammler von Märchen.' Dr. Mortimer zog ein zusammengelegtes Zeitungsblatt aus der Tasche und sagte:

'Nun, Herr Holmes, so wollen wir Ihnen jetzt etwas Moderneres vorlegen. Dies hier ist die ›Devon Country Chronicle‹ vom 14. Mai dieses Jahres. Sie enthält einen kurzen Bericht über den etliche Tage vorher eingetretenen Tod Sir Charles Baskervilles.' Mein Freund beugte sich ein wenig vor, und seine Züge nahmen einen Ausdruck gespannter Aufmerksamkeit an. Unser Besucher schob seine Brille zurecht und begann:

'Der soeben erfolgte plötzliche Tod Sir Charles Baskervilles, von dem als vermutlichen Kandidaten der liberalen Partei für Mitteldevon bei der nächsten Wahl die Rede war, ist ein trauriges Ereignis für die ganze Grafschaft. Wenngleich Sir Charles erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit Baskerville Hall bewohnte, so hatten ihm doch sein liebenswürdiger Charakter und seine außerordentliche Freigebigkeit die Zuneigung und Achtung aller gewonnen, die mit ihm in Berührung kamen. In unseren Tagen reicher Emporkömmlinge freut man sich, wenn es einmal dem Sprößling einer altansässigen Familie gelungen ist, aus eigener Kraft ein Vermögen zu erwerben und damit den verblichenen Glanz seines durch böse Zeitläufte gegangenen Geschlechtes wieder aufzufrischen. Wie wohl allgemein bekannt ist, gewann Sir Charles große Summen durch Spekulationen in Südafrika. Er war weise genug, nicht so lange zu warten, bis das Glück sich gegen ihn kehrte, sondern machte seinen Gewinn zu Geld und kehrte damit nach England zurück. Es sind erst zwei Jahre vergangen, seit er wieder Baskerville Hall bezog, und die von ihm geplanten großen Neubauten und Verbesserungen bilden bekanntlich das allgemeine Gespräch in der ganzen Gegend; nun sind sie durch seinen Tod unterbrochen worden! Da er selbst keine Kinder hatte, so war es sein offen ausgesprochener Wunsch, die ganze Gegend solle von dem von ihm bescheiden gewesenen Glück Vorteil haben. Gar mancher wird daher ganz persönliche Veranlassung haben, den vorzeitigen Tod des Wohltäters zu beweinen. Von seinen hochherzigen Schenkungen zu milden Zwecken ist in unseren Spalten oft die Rede gewesen. Die Umstände, unter denen der Tod erfolgt ist, sind freilich durch die Untersuchung nicht gänzlich aufgeklärt worden, doch ist immerhin genug festgestellt, um gewissen Gerüchten entgegenzutreten, die durch den Aberglauben der Bevölkerung in Umlauf gesetzt sind. Nicht der geringste Grund spricht für ein Verbrechen oder läßt darauf schließen, daß übernatürliche Mächte im Spiel sein könnten. Sir Charles war Witwer und galt für einen Mann von etwas sonderbarer Geistesanlage. Trotz seines beträchtlichen Reichtums war er einfach in seinen Lebensgewohnheiten, und die im Haus selbst wohnende Dienerschaft von Baskerville Hall bestand nur aus dem Ehepaar Barrymore. Ihre Aussage, die durch das Zeugnis mehrerer Freunde des Verstorbenen bestätigt wird, lautet dahin, daß Sir Charles schon seit einiger Zeit bei schwacher Gesundheit gewesen sei und besonders an einer Herzkrankheit gelitten habe, die sich in plötzlichen Veränderungen der Gesichtsfarbe, in Atemnot und in Anfällen von Gemütsverstimmung kundgegeben. Dr. Mortimer, der Freund und ärztliche Berater des Verschiedenen, hat sein Zeugnis in demselben Sinne abgelegt. Die Tatsachen des Falles sind einfach. Sir Charles Baskerville hatte die Gewohnheit, jede Nacht vor dem Zubettgehen noch einen Gang in der berühmten Taxusallee von Baskerville Hall zu machen. Dies geht aus dem Zeugnis der Barrymores hervor. Am 4. Mai hatte Sir Charles die Absicht ausgesprochen, am nächsten Tag nach London zu fahren, und hatte Barrymore beauftragt, sein Gepäck zurechtzumachen. Am Abend ging er wie immer aus, um seiner Gewohnheit gemäß auf seinem nächtlichen Spaziergang eine Zigarre zu rauchen. Er kam nicht wieder zurück. Um 12 Uhr fand Barrymore die Haustür noch offen, wurde unruhig und ging mit einer brennenden Laterne auf die Suche nach seinem Herrn. Es hatte tagsüber geregnet, und Sir Charles' Fußspuren waren leicht die Taxusallee hinunter zu verfolgen. Auf halbem Weg befindet sich eine Pforte, die nach dem Moor hinausführt. Aus gewissen Anzeichen läßt sich schließen, daß Sir Charles dort eine Zeitlang gestanden hatte. Dann hatte er seinen Weg den Gang hinunter fortgesetzt, und an dem äußersten Ende dieses Ganges wurde seine Leiche aufgefunden. Noch unaufgeklärt ist der von Barrymore bezeugte Umstand, daß die Fußspuren von der Heckenpforte an sich änderten, und daß er augenscheinlich von dieser Stelle an auf den Fußspitzen weitergegangen war. Ein Zigeunerpferdehändler namens Murphy war um jene Stunde nicht weit davon auf dem Moor, jedoch in etwas angetrunkenem Zustand, wie er selber angibt. Er erklärt, er habe mehrere Schreie gehört, könne aber nicht sagen, aus welcher Richtung diese gekommen seien. Zeichen von Gewalt waren an Sir Charles' Leiche nicht zu entdecken; allerdings waren nach Aussage des Arztes seine Gesichtszüge auf fast unglaubliche Weise verzerrt - Doktor Mortimer wollte anfangs gar nicht glauben, daß es sein Freund und Klient war, der da als Leiche vor ihm lag -, indessen ist dies ein Symptom, das man an Toten, die an Herzschlag gestorben sind, nicht selten beobachtet. Diese Erklärung wurde bestätigt durch den Sektionsbefund, der eine weit vorgeschrittene, langjährige Entartung des Herzens ergab. Der Wahrspruch der zur Leichenschau berufenen Geschworenen lautete daher in Übereinstimmung mit der Meinung des Arztes. Dies ist gut so; denn selbstverständlich ist es von allergrößter Wichtigkeit, daß auch Sir Charles' Erbe sich auf Baskerville Hall niederläßt und die so traurig unterbrochene nutzbringende Arbeit wiederaufnimmt. Hätte der prosaische Befund der Leichenschau nicht die von Ohr zu Ohr geflüsterten romantischen Geschichten endgültig zum Schweigen gebracht, so möchte es wohl schwergehalten haben, einen neuen Bewohner nach Baskerville Hall zu bringen. Wie wir vernehmen, ist der nächste Verwandte Herr Henry Baskerville - falls er noch am Leben ist -, der Sohn von Sir Charles' jüngerem Bruder. Der junge Herr befand sich nach den letzten Nachrichten, die von ihm eingingen, in Amerika; es sind bereits Nachforschungen nach ihm angestellt, um ihn von der ihm zugefallenen Erbschaft in Kenntnis zu setzen.' Doktor Mortimer faltete seine Zeitung zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. 'Dies, Herr Holmes, sind die öffentlich feststehenden Tatsachen mit Bezug auf den Tod Sir Charles Baskervilles.' 'Ich muß Ihnen meinen Dank aussprechen', sagte Sherlock Holmes, 'daß Sie meine Aufmerksamkeit auf einen Fall gelenkt haben, der sicherlich manche interessante Züge darbietet. Mir waren seinerzeit bereits einige darauf bezügliche Zeitungsartikel aufgefallen, aber gerade damals beschäftigte mich ganz außerordentlich der kleine Fall mit den vatikanischen Kameen, und in meinem Eifer, dem Papst gefällig zu sein, verlor ich die Fühlung mit verschiedenen interessanten englischen Fällen. Sie sagten doch, dieser Artikel enthalte alle öffentlich feststehenden Tatsachen?' 'Ja.' 'Dann lassen Sie mich wissen, welches die geheimen Tatsachen sind.' Damit lehnte Holmes sich zurück, faltete wieder seine Hände und nahm die unbeweglichen Gesichtszüge an, die bei ihm ein Zeichen waren, daß er seine ganze Urteilskraft anspannte. Dr. Mortimer war augenscheinlich von einer starken Erregung ergriffen; endlich sagte er:

'Ich will es tun; aber ich sage Ihnen damit etwas, das ich bisher keinem Menschen anvertraut habe. Ich habe es vor den Geschworenen der Leichenschau verschwiegen - das tat ich, weil ein Mann der Wissenschaft davor zurückscheut, den Anschein zu erwecken, als ob er einen Volksaberglauben unterstützen wolle. Ferner hatte ich den Grund, daß, wie auch die Zeitung bemerkt, Baskerville Hall ganz gewiß keine neuen Bewohner erhalten würde, wenn der ohnehin schon grausige Ruf, worin das Haus steht, noch verschlimmert würde. Aus diesen beiden Gründen glaubte ich ein Recht zu haben, nicht alles zu sagen, was ich wußte; denn irgendein Nutzen war dabei nicht zu erreichen. Aber Ihnen gegenüber habe ich keine Ursache, nicht vollständig offen zu sein. Das Moor ist sehr dünn bevölkert; die Nachbarn sind daher sehr aufeinander angewiesen. So verkehrte ich denn auch sehr viel mit Sir Charles Baskerville. Mit Ausnahme von Herrn Frankland auf Lafter Hall und einem Naturforscher, Herrn Stapleton, gibt es auf Meilen im Umkreis keine wissenschaftlich gebildeten Männer. Sir Charles suchte die Zurückgezogenheit; aber seine Krankheit brachte uns zusammen, und da wir gemeinsame wissenschaftliche Interessen hatten, so wurde unser Verkehr ein dauernder. Er hatte viele wissenschaftliche Kenntnisse aus Südafrika mitgebracht, und manchen köstlichen Abend verlebten wir zusammen in Gesprächen über die anatomischen Eigentümlichkeiten der Buschmänner und der Hottentotten. In den letzten Monaten bestärkte sich immer mehr meine Überzeugung, daß Sir Charles' Nerven bis zum Zerreißen gespannt waren. Er nahm es mit der Sage, die ich Ihnen vorlas, außerordentlich ernst; dies ging soweit, daß er unter keinen Umständen nachts das Moor betrat, obwohl es zu seinem eigenen Grund und Boden gehörte. Es mag Ihnen unglaublich erscheinen, Herr Holmes, aber er war allen Ernstes überzeugt, daß ein grausiges Verhängnis über seinem Geschlecht schwebte, und allerdings klang, was er von seinen Vorfahren zu erzählten wußte, nicht gerade ermutigend. Der Gedanke, von irgendwelchen bösen Geistern umgeben zu sein, verfolgte ihn beständig, und mehr als einmal fragte er mich, ob ich nicht auf den nächtlichen Fahrten, die mein Beruf nötig machte, eine seltsame Erscheinung gesehen oder Hundegebell gehört hätte. Diese letztere Frage richtete er mehrmals an mich, und stets zitterte dabei seine Stimme vor Erregung. Eines Abends - ich erinnere mich des Vorfalls noch sehr gut; es war ungefähr drei Wochen vor dem traurigen Ereignis - fuhr ich bei seinem Haus vor. Er stand zufällig vor seiner Tür. Ich war von meinem Wägelchen abgestiegen und stand vor ihm; plötzlich sah ich, wie seine Augen in furchtbarstem Entsetzen über meine Schulter hinwegstarrten. Ich drehte mich um und konnte gerade noch am Ende des Weges eine Gestalt bemerken, die ich für ein großes schwarzes Kalb hielt. Er war so entsetzlich aufgeregt, daß ich nach der Stelle, wo das Tier gewesen war, hingehen und Umschau halten mußte. Es war jedoch verschwunden. Die Erscheinung hatte augenscheinlich einen sehr schlimmen Eindruck auf ihn gemacht. Ich blieb den ganzen Abend bei ihm, und bei dieser Gelegenheit gab er mir, um mir seine Aufregung zu erklären, die geschriebene Erzählung, die ich Ihnen vorhin vorlas. Ich erwähne diesen kleinen Vorfall, weil er durch die darauffolgende Tragödie eine gewisse Bedeutung gewonnen hat; aber damals war ich überzeugt, die Erscheinung werde eine sehr hausbackene Ursache haben, und seine Aufregung sei völlig unbegründet. Zu der Reise nach London entschloß Sir Charles sich auf mein Anraten. Ich kannte seinen gefährlichen Herzfehler; die beständige Aufregung, worin er lebte, griff offenbar in ernstlicher Weise seine Gesundheit an, mochten es auch reine Hirngespinste sein. Ich dachte, ein paar Monate unter den Zerstreuungen der Großstadt würden einen neuen Menschen aus ihm machen. Unser gemeinsamer Freund Stapleton, der sich ebenfalls große Sorge um Sir Charles' Gesundheit machte, teilte meine Ansicht. Im letzten Augenblick vor der Reise trat das traurige Ereignis ein. In der Todesnacht schickte Barrymore, der den Leichnam auffand, den Stallknecht Perkins als reitenden Boten zu mir, und da ich trotz der späten Stunde noch auf war, so war es mir möglich, binnen einer Stunde nach Barrymores Entdeckung auf Baskerville Hall einzutreffen. Ich stellte alle bei der Untersuchung vorgebrachten Einzelheiten fest. Ich verfolgte die Fußspuren im Taxusgang, ich sah die Stelle an der Moorpforte, wo er gewartet zu haben schien, ich bemerkte die Veränderung der Fußspuren von jener Stelle an, ich stellte fest, daß auf dem weichen Boden keine anderen Spuren vorhanden waren als die von Barrymore hinterlassenen. Endlich untersuchte ich sorgfältig den Leichnam, der bis zu meiner Ankunft unberührt liegengeblieben war. Sir Charles lag mit dem Gesicht nach unten, die Finger in das Erdreich eingekrallt, und seine Züge waren von irgendeiner ungeheuren Erregung so furchtbar verzerrt, daß ich kaum darauf hätte schwören können, es sei wirklich mein Freund. Ganz bestimmt war keine körperliche Verletzung irgendwelcher Art vorhanden. Aber eine falsche Angabe hat Barrymore vor der Jury gemacht. Er behauptete, es seien auf dem Boden in der Nähe der Leiche keine Spuren vorhanden gewesen. Er bemerkte allerdings keine. Aber ich sah welche - ein kleines Stück entfernt, aber frisch und deutlich.' 'Fußspuren?' 'Fußspuren.' 'Von einem Mann oder von einer Frau?' Dr. Mortimer sah uns einen Augenblick lang mit sonderbarem Ausdruck an; dann sagte er leise, fast flüsternd:

'Herr Holmes, es waren die Spuren eines riesengroßen Hundes.'

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
251 Seiten
ISBN:
9783954480913
Erschienen:
September 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Heinrich Darnoc
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