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Das Solidaritätsprinzip - Barbara Prainsack, Alena Buyx

Das Solidaritätsprinzip

von Barbara Prainsack Alena Buyx

Einleitung Mit Fug und Recht darf man den Begriff der Solidarität als "schillernd" bezeichnen. Nach einer heterogenen Begriffsgeschichte wird er heute in verschiedenen Fachdisziplinen sehr unterschiedlich definiert und eingesetzt. Sozialwissenschaftler untersuchen Phänomene sozialer Kohäsion unter Verweis auf Solidarität, Moraltheologen entwickeln Theorien globaler Verantwortung auf ihrer Grundlage, und Philosophen debattieren die Zulässigkeit und Reichweite von Gruppensolidarität. Manche streben danach, Solidarität als universelles Prinzip zu konzipieren. Hinzu kommt die breite Verwendung des Begriffs in alltagspolitischen und medialen Debatten. Solidarität ist hier ein viel bemühtes Schlagwort und taucht in ganz unterschiedlichen Kontexten auf. Die Abwesenheit einer klaren Definition des Begriffes führt dazu, dass manchmal völlig gegensätzliche Analysen oder Normen auf den diversen Definitionsspielarten aufgebaut werden. So sehen etwa manche Autoren Solidarität vor dem Hintergrund der derzeitigen wirtschaftlichen und politischen Krisen als gefährdet an, während andere Krisen als solidaritätsfördernd betrachten. Ähnlich werden zum Beispiel soziale Medien von manchen Autoren als Grundlage neuer solidarischer Bindungen beschrieben, während andere ihre solidaritätszersetzende Wir-kung beklagen. Diese unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Begriffsver-wendungen - teils komplex theoretisch, teils völlig unterbestimmt - haben dazu geführt, dass Solidarität zwar fest in der Alltagssprache und in ein-schlägigen Fachdebatten verankert ist, aber häufig als vages oder schwer zu fassendes Konzept wahrgenommen wird. Obwohl in den unterschiedlichsten Lebensbereichen und intellektuellen Traditionen auf sie Bezug genommen wird, findet man erstaunlich wenige explizite Auseinandersetzungen mit dem Solidaritätsbegriff. Selbst in der Moralphilosophie, zu deren Aufgaben die Analyse moralrelevanter Begriffe gehört, spielt Solidarität eine untergeordnete Rolle - und das, obwohl sich die meisten Autoren einig sind, dass Solidarität jedenfalls ethisch-normative Elemente hat. Auch nach mehr als 15 Jahren muss Kurt Bayertz' Aussage zugestimmt werden, dass das "Phänomen der Solidarität wie ein erratischer Block in der moralischen Landschaft der Moderne [liegt]. Es ist aus dem Alltag wohlbekannt, zugleich aber doch ein Fremdkörper geblieben" (Bayertz 1997: 9). Diese Diagnose trifft auch auf den weiten und interdisziplinären Be-reich der biomedizinischen Ethik zu. Auch hier finden sich gemischt all-tagssprachliche und fachspezifische Verwendungen, und auch hier herrscht begriffliche Verwirrung. In einzelnen Teildebatten wurde der Begriff näher in den Blick genommen; so etwa in den Niederlanden in den späteren 1990er-Jahren im Kontext beginnender Auseinandersetzungen um die gerechte Verteilung knapper Ressourcen im Gesundheitswesen oder angesichts neuer Möglichkeiten genetischer Diagnostik und Therapie (siehe etwa ter Meulen u.a. 2010; Van Hoyweghen & Horstman 2010). Der Versuch, eine Übersicht über Verwendungsweisen und Begriffsdefinitionen zu geben, oder gar eine systematische Untersuchung des analytischen und lösungsorientierten Potentials des Begriffs im Kontext biomedizinethischer Fragen wurden bisher jedoch nicht unternommen. Als noch relativ junger Forschungsbereich hat die biomedizinische Ethik ein besonderes Interesse an der Analyse fachintern wichtiger und grundlegender Konzepte. Autonomie ist ein prominentes Beispiel, Men-schenwürde ein anderes, insbesondere im deutschsprachigen Raum. Umso mehr erstaunt es, dass neben den inzwischen zahllosen Publikationen zu diesen Begriffen nur eine Handvoll von Arbeiten die frequenten, unter-determinierten Begriffsverwendungen der Solidarität untersucht. Angesichts dieses Umstandes - aber auch im Lichte der zunehmenden Popularität von Solidarität in der öffentlichen Debatte (nicht nur) im an-gelsächsischen Raum, wo Solidarität bis dahin eine ganz besonders rand-ständige Rolle gespielt hatte - entschied das Nuffield Council on Bioethics im Jahr 2010, ein Projekt zu Solidarität in der Bioethik zu starten. Das Council, welches de facto die Rolle eines nationalen Ethikrats in Großbritannien einnimmt, obwohl es im Unterschied zu vielen von nationalen Parlamenten bestellten Ethikräten in anderen Ländern unabhängig arbeitet, versprach sich von diesem Projekt den Beginn einer Begriffsklärung von Solidarität in der biomedizinethischen Literatur. Zusätzlich sollten neue Impulse für aktuelle politische Debatten erarbeitet werden. Wir hatten das Vergnügen, das Solidaritäts-Projekt mit dem Council gemeinsam umzusetzen. Das kurze (nur halbjährige), für das Council klei-ne (nur zwei Autorinnen) und ursprünglich weitgehend für ein internes Publikum von Ratsmitgliedern konzipierte Projekt hat seither erfreulichen Widerhall gefunden. Mehr als 50 Kollegen stellten uns in der einen oder anderen Art und Weise ihre Expertise zur Verfügung. Seit der Publikation wurde u.a. eine Konferenz der Schweizer Brocher-Stiftung zu unserer Ar-beit zum Solidaritätsbegriff abgehalten; die belgische König-Baudouin-Stiftung in Zusammenarbeit mit der belgischen Bioethikkommission grif-fen unseren Solidaritätsansatz in ihren Arbeiten zur Mittelverteilung im Gesundheitsbereich auf, und das von uns vorgeschlagene Verständnis des Solidaritätsbegriffes wird seither regelmäßig in der bioethischen Literatur diskutiert. Angesichts des anhaltenden und wachsenden Interesse an dem Bericht und der darauf aufbauenden konzeptionellen und empirischen Arbeit rund um Solidarität (etwa: Dawson & Verweij 2012; Dawson & Jennings 2012; Lyons 2012; Psarikidou u.a. 2012; Chadwick & O'Connor 2013; Krishnamurty 2013; Kowal 2013; Hall u.a. 2014; Hinterberger 2014; Paul u.a. 2014; Rock & Degeling 2014; Snelling 2014) scheint es an der Zeit, dieses neuerliche Interesse am Solidaritätsbegriff (dessen Relevanz keines-falls nur auf die biomedizinische Ethik beschränkt ist) einer deutschspra-chigen Leserschaft näherzubringen. Zwar gibt es bereits einige ausgezeich-nete deutschsprachige Bände zur Solidarität (siehe etwa Bayertz 1997; Brunkhorst 2005); doch steht dem deutschsprachigen Leser bisher weder eine Übersicht der Arbeiten aus dem angloamerikanischen Raum zur Verfügung, noch eine fachspezifische Untersuchung aus dem Feld der biomedizinischen Ethik. Zudem sind wir davon überzeugt, dass die innovativen Aspekte unserer Arbeitsdefinition, die international intensiv diskutiert werden, auch der deutschen Debatte Impulse geben können. Der vorliegende Band stellt die stark überarbeitete und aktualisierte Übersetzung des Projektberichtes dar, welcher im Herbst 2011 im Verlag des Nuffield Council on Bioethics erschienen ist. Es ist dies die erste systematische Untersuchung relevanter Literatur zum Begriff der Solidarität in zeitgenössischen bioethischen Kontexten (Kapitel 3). Hinzu kommen einführende Verweise zur Begriffsgenese (Kapitel 1), eine Diskussion des Solidaritätsbegriffs in verwandten Disziplinen (Kapitel 2) und einige Abgrenzungen von verwandten Begriffen (Kapitel 4). Bei der Projektplanung zunächst nicht vorgesehen, im Rahmen der späteren Arbeit jedoch als zwingend empfunden, enthalten die späteren Kapitel nicht nur eine neue, verschiedene (Teil-)Definitionen synthetisierende Arbeitsdefinition von Solidarität (Kapitel 5), sondern auch drei Fallstudien, in denen diese auf ihr klärendes und problemlösendes Potential hin untersucht wird (Kapitel 6 bis 8). An dieser Stelle wollen wir all jenen, die das Projekt unterstützt und gefördert haben, unseren Dank aussprechen. Zuallererst sei Albert Weale gedankt, dem damaligen Vorsitzenden des Nuffield Council on Bioethics, auf den die ursprüngliche Idee zurückgeht, Verwendungen des Solidaritätsbegriffs in der biomedizinethischen Literatur zur kartieren. Hugh Whittall, der Direktor des Council, hat das Projekt begleitet und die notwendigen Fördermittel eingeworben. Das britische Arts and Humanities Research Council (AHRC), das Economic and Social Research Council (ESRC), die Nuffield Foundation, und das Nuffield Council on Bioethics selbst haben für eine großzügige finanzielle Förderung gesorgt bzw. diese zur Verfügung gestellt. Die Brocher-Stiftung hat 2012 eine Tagung zu unserem Solidaritätsansatz ausgerichtet. Mitglieder des Nuffield Council on Bioethics und viele andere Kolleginnen und Kollegen stellten großzügig ihre Zeit und Expertise zur Verfügung; sei es im Rahmen verschiedener Workshops und Veranstaltungen oder als interne Gutachter. Wir führen sie unten namentlich auf. Ehemalige und gegenwärtige Council-Mitarbeiter, namentlich Sarah Bougourd, Tom Finnegan, Kate Harvey, Carol Perkins, Johanna White und insbesondere Varsha Jagadesham und Catherine Joynson haben uns bei der ursprünglichen Manuskripterstellung und der Organisation verschiedener Veranstaltungen in vielfacher Weise unterstützt. Eine erste Vorübersetzung wurde von Lea-Rebecca Lahnstein vorge-nommen; jegliche verbleibende sprachliche Unbeholfenheit der deutschen Fassung geht allein auf uns zurück. Wiebke Herr, Jonah Röseler und Mona Rudolph haben unschätzbare Dienste geleistet bei der Erstellung des Manuskriptes. Jürgen Hotz vom Campus-Verlag danken wir für die außerordentlich freundliche und kompetente Begleitung dieses Buchprojektes. Ehemalige und gegenwärtige Council-Mitglieder: Roger Brownsword, Robin Gill, Søren Holm, Graeme Laurie, Tim Lewens, Bronwyn Parry, Nik Rose, Marilyn Strathern, Jonathan Wolff. Kollegen, die unser Manuskript in verschiedenen Stadien der Entwick-lung begutachtet haben: Misha Angrist, Ruth Chadwick, Angus Clarke, SD Noam Cook, Peter Dabrock, Kathryn Ehrich, Roy Gilbar, Beth Greenhough, David Gurwitz, Klaus Hoeyer, Ine van Hoyweghen, Frank J. Leavitt, Jeantine Lunshof, Michaela Mayrhofer, Timothy Milewa, Chris-topher Newdick, Gísli Pálsson, Andrew Papanikitas, Anne Phillips, Andreas Reis, Harald Schmidt, Carmel Shalev, Kadri Simm, Tim Spector, Meike Srowig, Karl Ucakar, Hendrik Wagenaar, Martin Weiß. Teilnehmer an den Nuffield Council on Bioethics Workshops zum Thema Solidarität: Richard Ashcroft, Nathan Emmerich, Darryll Gunson, Shawn Harmon, Jyri Liukko, Ruud ter Meulen, Peter Mills, Christopher Nathan, David Rhind, Klaus-Peter Rippe, James Wilson, Tim Wilson, Katharine Wright, Ho Chih-hsing, Angus Dawson, Stephen Feuchtwang, Nadja Ka-nellopoulou, Terrie Moffit, Jo Newstead, Andreas Reis, Genevra Richard-son.

Barbara Prainsack und Alena Buyx, London/Kiel, August 2015 1. Solidarität: Einführung in die Genese des Begriffs 1.1 Einleitung Auch wenn der Schwerpunkt dieses Buches auf Themen liegt, die in der heutigen Bioethik relevant und Gegenstand aktueller Debatten sind, ist es dennoch sinnvoll, einen kurzen Blick auf das historische und politische Erbe des Solidaritätskonzeptes zu werfen. Einige Phasen seiner mehrere Jahrhunderte langen Geschichte haben die Bedeutung des Begriffs nämlich besonders stark geprägt. Zuvor jedoch eine geografische Einschränkung: Im hier folgenden knappen Überblick über die Hauptentwicklungsstränge des Solida-ritätsbegriffs lassen wir die Bedeutungsentwicklung außerhalb (West-) Eu-ropas und Nordamerikas außer Acht. Dies scheint angesichts der Tatsache gerechtfertigt, dass die Genese des Solidaritätsbegriffs in Gesellschaften stattgefunden hat, die durch ein bestimmtes "westliches" Personenverständnis geprägt waren. Nach der Auffassung vieler Autoren, wie auch der des in Münster lehrenden Philosophen Kurt Bayertz (1999: 3), stammt der Begriff der Solidarität etymologisch aus dem römischen Recht: Bei Verträgen, welche zwischen zwei oder mehreren Gläubigern oder Schuldnern in solidum abgeschlossen wurden, schuldeten oder hafteten die durch diese rechtliche Form der Solidarität verbundenen Personen gemeinsam (in manchen Ländern ist der Begriff heute noch im Zivilrecht im Gebrauch; siehe Brunkhorst 2002 oder Buyx 2008: 872). Diese frühe Verwendung eines Begriffs von Solidarität setzt eine Gesellschaft voraus, die aus autonomen Einzelpersonen besteht, deren Schicksal jedoch durch rechtliche (oder andere) Instrumente für einen bestimmten Zweck oder in einem bestimmten Zusammenhang verbunden werden kann. Auch die solidarité der französischen Revolution muss vor dem Hintergrund einer Gesellschaft gesehen werden, die sich als Verband aus individuellen, idealtypisch autonomen Bürgern verstand. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zu Gesellschaften dar, in denen das autonome Individuum nicht als zentraler Handlungsträger betrachtet wird (zum Beispiel Stonington & Ratanakul 2006). In solchen Gesellschaften, wie zum Beispiel in einigen asiatischen, fehlt dem Solidaritätsbegriff, wie wir ihn im okzidentalen Raum kennen, die Bedeutungsgrundlage; eine Debatte über den Begriff wäre deutlich anders gelagert. Die grundlegende Verpflichtung (beispielsweise im Konfuzianismus), zu einem harmonischen und balancierten sozialen Umfeld beizutragen, ist die Manifestation einer Einstellung, die das gesellschaftliche Gemeinwohl dem Wohl der Einzelperson als vorgelagert betrachtet (siehe etwa Ruiping 1999; Kasulis u.a. 1993). Eine Analyse und Begriffsbestimmung von Solidarität vor einem solchen Hintergrund hätte also einen völlig anderen Ausgangspunkt, für den uns hier der Raum fehlt. Wir beschränken uns daher auf eine kurze und einführende Übersicht über die westliche Begriffsgenese, ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben (vgl. detaillierter Wildt 1995). 1.2 Frühe Ansätze: klassische Gesellschaftstheorie und Sozialwissenschaft Autoren wie zum Beispiel Kurt Bayertz (1999) oder Karl Metz (1999) he-ben den Ursprung des Begriffs der Solidarität im römischen Recht hervor, während andere die Geschichte des Solidaritätsbegriffs mit dem vermehrten Gebrauch und der Geltung des Begriffs solidarité während der Französischen Revolution beginnen lassen (zum Beispiel Scholz 2008: 28-32). Der norwegische Sozialwissenschaftler Steinar Sternø (2004) betont die duale Verwendung des Solidaritätsbegriffs als Rechtsbegriff einerseits und als politischen Kampfbegriff andererseits. Die fraternité, also das politische Motto der Brüderlichkeit in Zeiten der Französischen Revolution, beschrieb (so Sternø) eine Form von Solidarität: "Sie war das Band, durch das die Revolutionäre in einer Schicksalsgemeinschaft vereint waren" (Sternø 2005: 27). Dieses Gefühl politischer Gemeinschaft wurde bald auf größere Gruppierungen ausgedehnt, für welche die Revolutionäre zu sprechen behaupteten. 1842 veröffentlichte der französische Journalist und Sozialist Hippolyte Renaud eine Publikation mit dem Titel Solidarité, in der er die seiner Meinung nach kurzsichtigen und partikularistischen Argumente kritisierte, welche innerhalb des Klassenkonflikts gegeneinander mobilisiert wurden. Die Polemik von beiden Seiten, so Renaud, verstelle den Blick auf den Umstand, dass alle Menschen, die Besitzenden wie die Besitzlosen, in ihrem Streben nach gesellschaftlichem Wohlergehen vereint wären und sich auf die Verfolgung gemeinsamer Ziele konzentrieren sollten. Renauds Buch trug zur Verbreitung der Idee dieser Form von Solidarität weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bei. Insbesondere die sozialistischen Bewegungen in England und Deutschland nahmen in der Folge den Solidaritätsgedanken in ihre eigenen Programme auf. Durch das Buch System der positiven Politik von Auguste Comte (2008: 1851ff.) - der häufig als "Vater der Soziologie" bezeichnet wird - erhöhte sich die Sichtbarkeit des Solidaritätsbegriffs auch außerhalb genuin politi-scher Debatten. Comtes Verwendung des Solidaritätsbegriffs war eindeutig präskriptiv: Er sah in Solidarität ein Heilmittel für die voranschreitende Individualisierung und Atomisierung der Gesellschaft und damit einen Weg zu mehr sozialer Fürsorge und kollektivem Wohlergehen. Die Bedeutung des Solidaritätsbegriffs im methodischen Rüstzeug der Sozialwissenschaften ist zudem auch dem französischen Soziologen Émile Durkheim zu verdanken. Durkheim leistete einen großen Beitrag zur Konzeption und Verankerung des Solidaritätsbegriffs in der soziologischen Theorie. Seine Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität, die er in Über soziale Arbeitsteilung (1992: 1893) entwickelte, ist auch heute noch ein wichtiger Referenzpunkt sozialwissenschaftlichen und politischen Denkens. Als mechanische Solidarität betrachtete Durkheim jene Zusammengehörigkeit, welche Menschen in vormodernen Gesellschaften miteinander verband; diese basierte ihm zufolge auf wesentlichen Gemeinsamkeiten im täglichen Leben und Streben: Bevor das Zeitalter moderner arbeitsteiliger Gesellschaften anbrach, führten Menschen dieselbe Arbeit aus, waren Teil derselben Familie oder wappneten sich gemeinsam gegen Bedrohungen aus der Natur. Die voranschreitende Differenzierung der Arbeitsteilung ging mit einem Verlust vieler dieser tagtäglichen Gemeinsamkeiten einher. Menschen gingen nun im Alltag sehr verschie-denen Aktivitäten nach und sahen sich mit unterschiedlichen Bedrohungen konfrontiert. Sie hatten vielfach differierende Ausbildungen und später auch immer häufiger unterschiedliche religiöse Anschauungen, Lebensstile und familiäre Bindungen. Trotzdem waren sie nach wie vor - oder sogar noch stärker - aufeinander angewiesen. Diese Abhängigkeitssituation beschrieb Durkheim als "organische Solidarität". 1.3 Solidarität in christlicher Theorie, Politik und Ethik Neben seiner Bedeutung in den Sozialwissenschaften ist der Solidaritätsgedanke auch eng mit der Geschichte des Christentums verbunden. Sternø (2005: 26) hält das christliche Ideal von Bruderschaft für den überhaupt wichtigsten Vorläufer des Solidaritätsbegriffs, wie wir ihn heute verwenden (siehe ähnlich auch Brunkhorst 2007). Die Gemeinschaft von Mönchen oder Nonnen im Kloster stellte ein Kollektiv von Gleichberechtigten dar, die miteinander ein Schicksal teilten. Laut Sternø kommt diese Form klösterlicher Bruder- bzw. Schwesternschaft einem frühen Ideal einer auf Solidarität basierenden Gemeinschaft gleich. Mit der Verbreitung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, in der weniger die Gemeinsamkeiten als vielmehr die Unterschiede zwischen Menschen im Vordergrund standen, erlangte der Begriff stärkere politische Aktualität auch außerhalb religiöser Gemeinschaften. Durch die Veränderungen im Produktionsprozess und in den Lebensverhältnissen der Menschen, welche die voranschreitende Modernisierung mit sich brachte, wurde die Notwendigkeit neuer Formen der gegenseitigen Unterstützung offenkundig. Hier bot sich das Modell geistlicher Ordensbrüder und -schwestern, die auf sehr unmittelbare Weise in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, als Leitbild an. In dieser Betonung der gegenseitigen Unterstützung zwischen Men-schen, die sich allesamt in einer ähnlichen Situation befinden, zeigt sich zudem ein Unterschied zu Begriffen wie der christlichen Nächstenliebe oder der Wohltätigkeit (caritas). Während caritas, wie Metz (1998: 183) schreibt, "ein Ausdruck eines freiwillig eingegangenen moralischen Ver-hältnisses der Reichen zu den Armen" war, beschrieb der Begriff der christlichen Solidarität die Idee des Beistands unter Gleichen. Auch wenn Menschen niemals in jeder Hinsicht gleich sein können - selbst bei Mön-chen und Schwestern im Kloster ist dies ja nicht der Fall -, so sind sie in der christlichen Glaubenslehre zumindest in einer Hinsicht gleich, nämlich in jener vor Gott (siehe auch Häyry 2004; Magill & Trotter 2001); die klösterliche Gemeinschaft fügt dieser Gleichheit noch eine Reihe anderer Gemeinsamkeiten hinzu. Auf den Unterschied zwischen den Begriffen der Solidarität und der Wohltätigkeit oder charity werden wir in Kapitel 4 noch einmal zurückkommen. In der christlichen Glaubenslehre hat das Opfer Christi eine besondere Relevanz für die Bedeutung des Solidaritätsbegriffs. In einer christlichen Version des römisch-rechtlichen Instruments der oben erwähnten Haftung in solidum, laut der Menschen in vertraglichen Verhältnissen gemeinsam zur Rechenschaft gezogen werden konnten, wird Jesu Tod als eine Art Begleichung der Schuld der Menschheit verstanden. Durch die Fleischwerdung zeigt Gott Solidarität mit den Menschen - ein Mensch, der Solidarität mit anderen übt, übt immer auch Solidarität mit Gott (siehe zum Beispiel Encyclica sollicitudo rei socialis [Über soziale Anteilnahme] Johannes Pauls II. 1987 für eine katholische Artikulation dieses Gedankens). Für Sternø (2005: 74) stellt der katholische Solidaritätsbegriff "die breiteste und inklusivste Version" von Solidarität dar. Sie hat ihre Wurzeln im Werk von Thomas von Aquin, in dem die Gemeinschaft aller Menschen betont wird. Das Ziel lautet hier, alle Menschen über wirtschaftliche, territoriale und selbst religiöse Grenzen hinaus in die Solidargemeinschaft mit einzubeziehen. Auch heute findet sich in katholischen Kreisen häufig ein Solidaritätsverständnis, das alle Menschen einschließt, ungeachtet ihres religiösen Bekenntnisses. Die katholische Soziallehre versteht unter Solidarität eines der grundlegenden Prinzipien gesellschaftlichen Lebens, das die gesamte Schöpfung "durchwaltet" (nach Pesch 1905, siehe auch Bayertz & Boshammer 2008). Es geht hier, sehr verkürzt gesprochen, jedoch nicht um eine soziale Gesinnung oder ein Gemeinschaftsgefühl, wie es in den erwähnten französischen sozialwissenschaftlichen Schriften angenommen wurde, sondern um einen tieferen, sozialphilosophischen Zusammenhang, der eine "in der menschlichen Natur seinshaft begründete Wechselbezogenheit" (Kerber 1998: 58) reflektiert. Der Mensch ist zwar, als Person, mehr als nur ein Teil eines gesellschaftlichen Ganzen, jedoch zugleich qua seiner Natur auf die Gemeinschaft hin geordnet; Gesellschaft und Gemeinschaft sind ihm wesensnotwendig. In normativer Hinsicht ergibt sich daraus zugleich die Verpflichtung der Menschen, ihrem Wesen entsprechend und gemäß dem "natürlichen, von Gott gewollten Zweck des gesellschaftlichen Lebens" in "positivem Zusammenwirken" das Wohl aller zu befördern (Pesch 1905: 30). Innerhalb des Protestantismus unterscheiden sich vor allem lutherische und calvinistische Gruppierungen in ihrem Verständnis von Solidarität. Während letztere das eindeutige Ziel hatten, das weltliche Leben mit dem Dekret Gottes in Einklang zu bringen - woraus das Recht abgeleitet wurde, sich Herrschern und Regeln zu widersetzen, die mit religiösen Werten nicht zu vereinen waren -, distanzierten sich Lutheraner stärker von explizit politischen Inhalten. Der Grund dafür lag in der sogenannten Zwei-Reiche-Lehre, die eine klare Trennung zwischen weltlichem und göttlichem Bereich vorschrieb. Dies bedeutete, dass Interpretationen des Solidaritätsgedankens, die auf eine Kritik an der Legitimität weltlicher Herrscher hinausliefen, indirekt auch religiöser Doktrin widersprachen. Weltliche Normen brauchten dann nicht befolgt zu werden, wenn sie der Heiligen Schrift, dem persönlichen Gewissen oder Landesgesetzen widersprachen. In diesen Fällen galt die weltliche Norm als illegitim. Dies eröffnete die Möglichkeit von Debatten über soziale Gerechtigkeit, den Zusammenhalt aller gottebenbildlichen Wesen und die Unterstützung der Bedürftigen innerhalb der religiösen Domäne selbst. Der Solidaritätsgedanke nahm dadurch indirekt die Funktion eines durch religiöse Werte genährten moralischen Gebots an, andere Christen in ihrem Streben nach sozialer Gerechtigkeit oder nach einer guten Lebensführung zu unterstützen. Insgesamt hat Solidarität in der christlichen Glaubenslehre, und hier sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Soziallehre, also zu jeder Zeit eine wichtige Rolle gespielt. Dem Solidaritätsbegriff als politischem Begriff wurde durch die gesellschaftlichen Umbrüche des 18. und 19. Jahrhunderts vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. Sowohl in seiner christlichen als auch in seiner politischen Lesart nimmt er stets auf gegenseitigen Beistand unter Menschen Bezug, die durch Schicksal, Lebensumstände, Gefahren oder Hoffnungen miteinander verbunden sind. 1.4 Solidarität in der sozialistischen Theorie Ein weiterer, mit den bereits erwähnten sozialen Theorien eng verbunde-ner Einwicklungsstrang des Solidaritätsbegriffes findet sich in der Arbei-terbewegung. In marxistischen und leninistischen Ansätzen ist der Solidaritätsgedanke eng mit der Vorstellung der Arbeiterklasse als einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Aus der Annahme, dass alle Arbeiter dieselbe Funktion im Produktionsprozess einnehmen und dadurch eine Vielzahl an Interessen miteinander teilen, wurde das moralische und politische Gebot des gegenseitigen Beistandes abgeleitet. Nur wenn sie zusammenhielten und sich gegenseitig unterstützten, konnten sie demnach ihr Los als weitgehend Besitzlose verbessern (siehe etwa Silver 1994: 550). Zwar schuldeten in dieser Sicht die Arbeiter nur den Angehörigen ihrer eigenen Klasse Solidarität, aber dafür waren nationale, territoriale und religiöse Grenzen unbedeutend. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das sozialistische Solidaritätsverständnis vom Solidaritätsprinzip heutiger Sozialstaaten, in denen die Solidargemeinschaft typischerweise an den Landesgrenzen endet. Die direkte Weiterführung des Solidaritätsgedankens der Arbeiterbewegung findet sich daher eher in transnationalen Bewegungen wie der globalen Antikapitalismusbewegung wieder. Innerhalb der Arbeiterschaft (und später der Arbeitnehmerschaft) spielten Gewerkschaftsbewegungen eine wichtige Rolle für die Ausprägung des kollektiven Solidaritätsbewusstseins. Solidarität wurde hier sowohl in deskriptiver als auch in präskriptiver Weise verstanden: Einerseits beschrieb Solidarität jene Situation, dass Menschen, die dieselbe Rolle im Produktionsprozess einnahmen, in vielerlei Hinsicht gemeinsame Probleme und Ziele haben. Andererseits wurde Solidarität jedoch auch, wie oben erwähnt, als normativer Wert verstanden, nämlich als moralisch-politische Pflicht zu gegenseitigem Beistand. Selbst jene, die noch nicht aktive Mitglieder der Arbeiterbewegung waren, sollten für den Solidaritätsgedanken zugunsten von Arbeitern und Arbeitnehmern gewonnen werden (Sternø 2004).

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
184 Seiten
ISBN:
9783593434018
Erschienen:
Februar 2016
Verlag:
Campus Verlag GmbH
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