Buch

Der Rächer - Edgar Wallace

Der Rächer

von Edgar Wallace

Captain Mike Brixan litt manchmal an gelinden abergläubischen Anwandlungen. Wenn er des Morgens durch die Felder ging, und eine junge Krähe vor ihm aufflog, hatte er die bestimmte Überzeugung, daß er an diesem Tage noch eine sehen würde. Als er nun auf der Durchreise in Aachen an der Bahnhofsbuchhandlung vorbeiging, fiel ihm der Titel eines Buches auf, und er kaufte den Roman: 'Nur eine Statistin oder der Stolz von Hollywood'. Daß man ihm den Preis von einer halben Million Mark für diese Schauergeschichte abnahm (damals blühte noch die Papiermark), machte weniger Eindruck auf ihn. Aber gerade das eine Wort 'Statistin' übte einen fast magischen Einfluß auf ihn aus. Die Geschichte handelte, wie er gleich darauf sah, von einer unbedeutenden Filmschauspielerin. Aber schon hatte er die dunkle Vorstellung, daß dieses Wort für ihn eine schicksalsschwere Bedeutung haben würde. Der Roman interessierte ihn gar nicht. Er las eine Seite des Buches. Der schwülstige Stil ärgerte ihn aber so, daß er seine Zuflucht zu dem belgischen Kursbuch nahm. Wenn ihn auch der Titel fasziniert hatte, so reichte sein Interesse doch nicht aus, um die ganze sensationelle Laufbahn dieser Heldin von den bescheidensten Anfängen bis zu Berühmtheit, Ansehen und Reichtum zu verfolgen. Das Wort 'Statistin' hatte sich Mike Brixan aufgedrängt, und er hatte die Vorstellung, daß ihm in den nächsten Tagen unbedingt eine Statistin begegnen werde. Er war nicht nur bei seinen Freunden als der tüchtigste Agent des Nachrichtendienstes im Auswärtigen Amt bekannt. Obwohl er in seinem Beruf vollständig aufging, interessierte er sich für Kriminalfälle. Er spielte gut Golf, aber ebenso gern las er die Berichte über aufsehenerregende Verbrechen. Seine dienstliche Beschäftigung bestand hauptsächlich darin, daß er merkwürdige Leute, die vom Kontinent herüberkamen, in obskuren Kneipen traf und mit ihnen lange und geheimnisvolle Unterredungen hatte. Zu diesem Zweck trat er in den verschiedensten Verkleidungen und Rollen auf. So blieb er in Kontakt mit den geheimen unterirdischen Strömungen, die nur zu oft das Schifflein der Diplomatie unerwünschten Zielen zutrieben. Zweimal war er als Tourist, der sich nur für schöne Landschaften und Sehenswürdigkeiten zu interessieren schien, durch ganz Europa gestreift. Viele hundert Meilen fuhr er mit einem Paddelboot durch die Stromschnellen der Donau. In den kleinsten Schenken am Ufer übernachtete er, um die Stimmung der Bevölkerung kennenzulernen und zu erfahren, was man von der geheimen Mobilisation im Volke wußte. Wenn es solche Aufgaben zu lösen galt, war er ganz bei der Sache. Gerade jetzt rief man ihn von Berlin ab, als der geheimnisvolle Vertrag zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei kurz vor dem Abschluß stand. Er ärgerte sich wütend darüber, denn es war ihm unter Aufwand nicht geringer Geldsummen gelungen, eine Abschrift der wesentlichen Punkte des Vertrages zu beschaffen. 'Wenn ich noch vierundzwanzig Stunden auf meinem Posten geblieben wäre, hätte ich die photographischen Aufnahmen der Originaldokumente bekommen', erklärte er seinem Vorgesetzten Major George Staines, als er sich am nächsten Morgen in Whitehall zum Dienstantritt meldete. 'Schade', antwortete dieser etwas ironisch. 'Aber wir hatten gerade eine vertrauliche Aussprache mit dem Ministerpräsidenten der Tschechoslowakei, der uns versprach, den Text des Vertrages mitzuteilen. Übrigens hatte die ganze Sache mit hoher Politik nichts zu tun, sondern betraf nur die Handelsbeziehungen zu Deutschland. - Mike, kannten Sie Eimer?' Der Detektiv setzte sich auf die Tischkante, während er eine Zigarette rauchte. 'Haben Sie mich deswegen von Berlin geholt, damit ich Ihnen diese Frage beantworten soll?' sagte er ärgerlich. 'Haben Sie mich deswegen aus meinem Café ›Unter den Linden‹ weggeholt, damit ich mich mit Ihnen über Eimer unterhalte? Er ist doch ein Sekretär im Regierungsdienst?' Major Staines nickte. 'Er war es', sagte er. 'Er war in der Oberrechnungskammer angestellt. Vor drei Wochen verschwand er plötzlich. Man kontrollierte seine Bücher, und es stellte sich heraus, daß er systematisch größere Summen unterschlagen hatte.' Mike Brixan machte ein Gesicht. 'Tut mir leid, das zu hören', sagte er. 'Er schien doch ein ganz ruhiger und ehrlicher Mensch zu sein. Aber Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß ich mich um ihn bemühen soll? Solche Aufgaben gehören nach Scotland Yard.' 'Ich will auch gar nicht, daß Sie ihm nachspüren sollen', sagte Staines langsam, 'weil - nun gut, er wurde schon gefunden.' Er sagte dies mit einem düsteren, bedeutungsvollen Unterton. Bevor er das kleine Papier aus seiner Mappe nehmen konnte, wußte Mike Brixan schon, was kommen würde. 'Der Kopfjäger hat doch nicht seine Hand im Spiel?' fragte er interessiert. Selbst er hatte im Ausland von den grausigen Taten dieses Mannes gehört. Staines nickte. 'Lesen Sie.' Er reichte seinem Untergebenen ein Blatt, das mit Maschine beschrieben war, über den Tisch. 'Sie werden in der Hecke an der Eisenbahnüberführung bei Esher eine Kiste finden. Der Kopfjäger.' 'Der Kopfjäger', wiederholte Mike mechanisch. Er pfiff leise. 'Wir haben natürlich sofort nachsuchen lassen und fanden die Kiste. Darin lag der sorgsam vom Rumpf getrennte Kopf des unglücklichen Eimer', sagte Staines. 'Das ist nun der zwölfte Kopf in sieben Jahren. Und jedesmal handelt es sich - allerdings mit Ausnahme zweier Fälle - um Leute, die sich der Gerichtsbarkeit entzogen hatten. - Selbst wenn die Vertragsfrage noch nicht geklärt wäre, Mike, hätte ich Sie zurückgerufen.' 'Aber das ist doch gar nicht meine Sache - das geht doch nur die Polizei an', sagte der junge Beamte etwas aufsässig. 'Sie dienen der Regierung doch tatsächlich als Detektiv', unterbrach ihn sein Chef, 'und der Sekretär der auswärtigen Angelegenheiten wünscht, daß Sie diesen Fall aufklären. Ich möchte noch hinzufügen, daß dies außerdem der Wunsch des Ministeriums des Innern ist, dem doch Scotland Yard untersteht. Bis jetzt wurde der Tod Francis Eimers und die grauenvolle Entdeckung seines Kopfes für die Presse nicht freigegeben. In der letzten Zeit gab es an und für sich schon soviel Unruhe und Angriffe gegen die Regierung, daß die Polizei diese Sache vorläufig geheimhalten muß. Man hielt die Leichenschau ab - ich vermute, daß die Mitglieder dieser Kommission besonders ausgesucht wurden. Aber es würde Hochverrat sein, darüber in der Öffentlichkeit etwas zu sagen. Und es ist dann auch das übliche Gutachten erstattet worden. Leider kann ich Ihnen nur wenig Informationen geben. Das einzige, was uns weiterhelfen kann, ist die Tatsache, daß Eimer vor einer Woche in Chichester von seiner Nichte gesehen wurde. Das haben wir aber schon herausgebracht, bevor wir sein trauriges Schicksal erfuhren. Das junge Mädchen heißt Adele Leamington und ist bei der Knebworth-Filmgesellschaft beschäftigt, die ihre Ateliers in Chichester hat. Der alte Knebworth kam aus Amerika und ist ein famoser Kerl. Sie ist so eine Art Statistin -' Mike atmete schwer. 'Statistin! Ich wußte doch, daß dieses verteufelte Wort mir wieder begegnen würde. Nun gut, was soll ich unternehmen?' 'Besuchen Sie die junge Dame einmal. Hier ist ihre Adresse.' 'War Eimer eigentlich verheiratet?' fragte Mike, während er den Papierstreifen in seine Tasche steckte. Der andere nickte. 'Ja, aber seine Frau weiß über die Angelegenheit nichts. Sie ist allerdings die einzige, die von seinem Tod unterrichtet ist. Sie hatte ihren Mann seit einem Monat nicht gesehen. Scheinbar lebten die beiden in den letzten Jahren mehr oder weniger getrennt. Übrigens war sein Tod für sie in gewissem Sinne eine Wohltat, da er zu ihren Gunsten hoch versichert war.' Mike nahm das Papier wieder aus der Tasche und las die grauenvolle Nachricht des Kopfjägers noch einmal. 'Wie erklären Sie sich diese Sache?' fragte er seinen Vorgesetzten interessiert. 'Man könnte denken, daß es ein Wahnsinniger ist, der sich berufen fühlt, Verbrecher zu bestrafen. Und diese Annahme würde auch stimmen, wenn nicht die beiden Ausnahmen wären, die die Hypothese über den Haufen werfen.' Staines lehnte sich in seinen Stuhl zurück und zog die Stirn kraus. 'Nehmen Sie den Fall von Willitt. Man fand seinen Kopf vor zwei Jahren in Clapham Common. Willitt war ein Mann in guten Verhältnissen, ein Beispiel von Ehrenhaftigkeit, überall beliebt, und nach seinem Tode wurde bekannt, daß er große Depots auf der Bank hatte. Die zweite Ausnahme war Crewling, der eines der ersten Opfer des Kopfjägers wurde. Er war ein über jeden Zweifel erhabener Charakter; allerdings stellte sich heraus, daß er einige Wochen vor seinem Tode seelisch nicht mehr im Gleichgewicht war. Die Briefe des Kopfjägers sind offensichtlich alle mit derselben Maschine geschrieben. Jedesmal haben sie das halbverwischte ›u‹, dann achten Sie bitte auf die schwachen ›g‹ und die außergewöhnliche Linienführung. Wir haben natürlich diese Umstände genau untersuchen lassen, und die Sachverständigen sind sich darin einig, daß die Schrift von einer alten, jetzt nicht mehr hergestellten Kost-Maschine herrührt. Wenn Sie den Mann ausfindig machen, der eine solche Schreibmaschine benützt, dann haben Sie vermutlich den Mörder gefunden. Aber wahrscheinlich wird man ihm nicht auf diesem Wege beikommen können. Die Polizei hat bereits Photographien der eigentümlichen Schrift veröffentlicht und hohe Belohnung ausgesetzt. Und ich glaube nicht, daß der Kopfjäger die Maschine noch zu anderen Zwecken gebraucht als dazu, den Tod seiner Opfer anzuzeigen.' Mike ging zu seiner Wohnung. Dieser sonderbare Auftrag hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. Er bewegte sich sonst doch nur in Sphären der hohen Politik. Die Finessen der Diplomatie waren seine Spezialität und die Schattenseite der Menschheit, die Diebe, Mörder und Straßenräuber, mit denen sich doch sonst nur die Polizei zu beschäftigen hatte, gehörten nicht zu seinem Wirkungskreis. 'Bill', sagte er zu seinem kleinen Terrier, der auf einer Decke vor dem ungeheizten Kamin im Wohnzimmer lag, 'diese Sache bringt mich noch zu Fall. Aber ob ich nun Erfolg habe oder nicht - ich werde eine Statistin kennenlernen. Ist das nicht großartig?' Bill wedelte freudig mit dem Schwanz.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
272 Seiten
ISBN:
9783954481163
Erschienen:
November 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
8
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4 (1 Bewertung)

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