Buch

Der schwarze Abt - Edgar Wallace

Der schwarze Abt

von Edgar Wallace

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'Thomas!' 'Mylord!' Der Lakai – angespanntes Interesse in seinem gewöhnlichen, wenig einnehmenden Gesicht – wartete, während der blasse Mann hinter dem großen Schreibtisch einen kleinen Stapel Papiergeld sortierte. Den abgenutzten Stahlkasten, dem sie entnommen waren, füllte bis zum Rande ein hoffnungsloses Durcheinander von Banknoten und Rentenscheinen. 'Thomas!' erklang es zerstreut von neuem. 'Mylord!' 'Stecken Sie dies Geld in jenes Kuvert. das nicht, Sie Dummkopf! Das graue. Ist es adressiert?' 'Jawohl, Mylord. An Herrn Lubitz, Leipzig, Frankfurter Straße 35.' 'Kleben Sie es zu und lassen Sie es einschreiben. Wo ist Mr. Richard? In seinem Arbeitszimmer?' 'Nein, Mylord. Er ging vor einer Stunde fort.' Harry Alford, der achtzehnte Graf von Chelford, seufzte. Er war in der ersten Hälfte der Dreißig, hatte das zarte, blasse Gesicht des geistigen Arbeiters und pechschwarzes Haar, das diese Blässe noch unterstrich. Die Bibliothek, in der er arbeitete, war ein ungewöhnlich hoher Raum, an drei Seiten von einer Galerie umgeben, zu der eine eiserne Wendeltreppe in einer Ecke des Zimmers hinaufführte. Von der Decke bis zum Fußboden war jeder Zoll der Wände mit Bücherregalen bedeckt, abgesehen von dem Platz über dem mächtigen offenen Kamin, wo in Lebensgröße das Bild einer wunderschönen Frau hing. Und niemand, der Seine Gnaden sah, konnte auch nur einen Augenblick verkennen, daß diese wildäugige Schönheit seine Mutter war. Dieselben feinen Gesichtszüge, das gleiche rabenschwarze Haar und dieselben dunklen, grundlosen Augen. Da Lady Chelford einst als die berühmteste Debütantin der Gesellschaft gegolten hatte, gehörte ihr tragisches Ende zu den großen Sensationen der neunziger Jahre. Sonst schmückte kein weiteres Bild die Bibliothek. Harry Alfords Blicke streiften das Porträt. Ihn dünkte das alte Herrenhaus von Fossaway trotz all seiner Schönheit und all seines Charmes ein armseliger Rahmen für solch ein Juwel! Der Lakai in seiner nüchternen schwarzen Livree und dem weißgepuderten Haar zögerte an der Tür. 'Weiter nichts, Mylord?' 'Das ist alles', entgegnete Seine Gnaden, doch als der Mann sich anschickte, geräuschlos zu verschwinden, kam ein neues: 'Thomas!' 'Mylord?' 'Ich hörte zufällig die Worte Ihrer Unterhaltung, als Sie heute morgen mit einem der Reitknechte unter meinem Fenster vorbeigingen. Ah.' 'Filling erzählte mir von dem schwarzen Abt.' In dem bleichen Gesicht zuckte es krampfhaft. Sogar am hellen Tage, während die Sonnenstrahlen durch die bunten Fenster strömten und rote, blaue und amethystfarbene Arabesken auf das Parkett malten, ließ nur die Erwähnung des schwarzen Abtes das Herz Harry Alfords schneller schlagen. 'Jeder, der über den schwarzen Abt spricht, wird sofort entlassen. Teilen Sie das der gesamten Dienerschaft mit, Thomas. Ein Gespenst? Großer Gott, seid ihr denn alle verrückt?' Sein Gesicht war jetzt gerötet, die Schläfenadern schwollen an, und unter dem Einfluß des Ärgers schienen die dunklen Augen in den Kopf zurückzuweichen. 'Kein Wort darüber, verstehen Sie? Es ist eine Lüge, eine niederträchtige Lüge, zu behaupten, daß es in Fossaway spukt! Irgendein Lümmel hat sich einen schlechten Scherz erlaubt.' Er winkte dem Diener, sich zu entfernen, und widmete sich wiederum dem Studium des alten Bandes, der am Morgen von Deutschland eingetroffen war. Hinter der Bibliothekstür verzerrte sich des Dieners glattes Gesicht sekundenlang zu einem hämischen Grinsen. In jener Geldkassette mußten wenigstens tausend Pfund liegen, und für den zehnten Teil dieser Summe hatte Thomas einst drei Jahre abgesessen. Aber hiervon ahnte sogar Mr. Richard Alford, der sonst so ziemlich alles wußte, nichts. Thomas hatte einen Brief zu schreiben, denn er unterhielt eine gewinnbringende Korrespondenz mit jemandem, der an Fossaway ein ganz besonderes Interesse nahm; vorher jedoch drängte es ihn, Mr. Glover, dem Butler, das eben Erlebte mitzuteilen. 'Mich kümmert’s nicht, was Seine Gnaden sagt – das Gespenst existiert, und alle möglichen Leute haben es gesehen!' Der würdevolle Mann schüttelte den silbergrauen Kopf. 'Ich würde nachts nicht für fünfzig Millionen allein durch die Ulmenallee gehen. Und Seine Gnaden glaubt im Geheimen auch daran. Ich wollte, er heiratete. Dann würde er sichtlich umgänglicher werden.' 'Und wir würden den verflixten Mr. Alford los, was, Mr. Glover?' Der Butler schnüffelte. 'Manche haben ihn gern, andere nicht', lautete sein Orakelspruch. 'Mir hat er noch nie ein grobes Wort gesagt. Thomas, es schellt!' Der Lakai hastete zur Halle und öffnete die schwere Haustür. Im Portal stand eine junge Dame. Hübsch, keck, sehr teuer gekleidet. Thomas schenkte ihr ein halbvertrauliches Lächeln. 'Guten Morgen, Miß Wenner! Das nenne ich eine angenehme Überraschung!' 'Ist Seine Gnaden zu Hause, Thomas?' 'Das wohl; aber ich darf Sie nicht anmelden. Ich kann nichts dafür, Miß. Mr. Alfords Befehl!' 'Mr. Alfords Befehl!' wiederholte sie bissig. 'Soll das heißen, daß ich den ganzen Weg von London nach hier umsonst gemacht habe?' Aber Thomas’ Hand gab die Klinke nicht frei. Er selbst hegte zwar Sympathie für die frühere Sekretärin Seiner Gnaden, die niemals vornehm getan hatte – das unverzeihlichste Vergehen für die Dienerstube! – und würde sie gern eingelassen haben, um so mehr, als er mutmaßte, daß auch seinem Herrn der Besuch nicht unwillkommen sei. Indes dräute irgendwo im Hintergrunde Dick Alford, ein kurz angebundener Mann, nicht allein fähig, ihm die Tür zu weisen, sondern ihn auch durch dieselbe hindurch zu befördern. 'Tut mir sehr leid, Miß. Aber Befehl ist Befehl!' 'So, so.' nickte sie unheilvoll. 'Ich werde also von der Schwelle des Hauses fortgeschickt, das mein eigenes hätte werden können, Thomas!' Er versuchte, eine teilnahmsvolle Miene zu ziehen, wodurch seine Züge den Stempel der Blödheit bekamen. Nichtsdestoweniger lächelte sie ihn freundlich an, beehrte ihn mit einem Händedruck und wandte sich zum Gehen. 'Miß Wenner', berichtete er in der Dienerstube, 'die Alford an die Luft setzte, weil er dachte, daß sie Seiner Gnaden zu sehr gefiele. Und.' Ein Klingelzeichen rief ihn in die Bibliothek. 'Wer war die Dame, die ich, durchs Fenster blickend, Weggehen sah?' 'Miß Wenner, Mylord.' Eine Wolke zog über Harry Alfords Gesicht. 'Baten Sie sie, näherzutreten?' 'Nein, Mylord. Mr. Alford befahl.' 'Ach, natürlich. Das hatte ich vergessen. Danke.' Den grünen Schutzschirm auf die Augen herabziehend – auch tagsüber arbeitete er bei künstlichem Licht –, nahm er die Lektüre wieder auf. Doch seine Gedanken weilten nicht restlos bei dem Inhalt des Folianten. Plötzlich erhob er sich und ging, die Arme verschränkt und das Kinn auf die Brust gesenkt, eine Weile hin und her, bis er vor dem Bilde seiner Mutter haltmachte. Dann kehrte er mit einem Seufzer zum Schreibtisch zurück. Dort lag ein Artikel, den er aus einer Londoner Zeitschrift ausgeschnitten hatte und den er, teils nicht unangenehm berührt durch die ungewöhnliche Tatsache, der Gegenstand von Pressekommentaren zu sein, teils erzürnt über das Thema, zum dritten Male las.

'Chelfordbury, ein verschlafenes Dorf in Sussex, frönt dem aufregenden Sport der Gespensterjagd. Der schwarze Abt von Fossaway hat sich nach einer längeren Ruhepause wieder gezeigt. Die Legende besagt, daß vor siebenhundert Jahren Hubert von Redruth, Abt von Chelfordbury, auf Befehl des zweiten Grafen von Chelford ermordet wurde. Seitdem hat man von Zeit zu Zeit seinen Geist gesehen. Während der letzten Jahre liefen in der Gegend grausige Gerüchte von einem Wesen um, das auf dämonische Art schrie und heulte, aber ansichtig geworden ist man des lärmenden Gespenstes erst in der vergangenen Woche. An Fossaway knüpfen sich außer jenen Geistergeschichten auch andere Legenden. Vor vierhundert Jahren wurde auf der Besitzung irgendwo ein Goldschatz vergraben, so gut, daß man ihn niemals entdeckte, obwohl die Grafen Chelford aller Zeiten eifrige Nachforschungen nach dem Hort der Ahnen angestellt haben. Der gegenwärtige Graf von Chelford, der mit Miß Leslie Gine, der einzigen Schwester des bekannten Rechtsanwalts und Notars, verlobt ist, teilte unserem Korrespondenten allerdings mit, daß das Auftauchen des schwarzen Abtes auf einen sehr taktlosen Scherz junger Leute aus der Nachbarschaft zurückzuführen sei.'

Er machte eine Bewegung, als wollte er den Ausschnitt zerreißen, besann sich dann jedoch eines anderen und legte ihn unter einen Briefbeschwerer. Der letzte Passus des Artikels klang beruhigend und mochte ihm vielleicht helfen, wenn die Nacht kam und er der Ermutigung bedurfte. Denn wie sehr Lord Chelford auch immer seinen Skeptizismus beteuerte – im geheimen war er felsenfest von der Existenz des schwarzen Abtes überzeugt! Nervös drückte er auf die elektrische Klingel. 'Ist Mr. Richard zurück?' 'Nein, Mylord.' Ärgerlich pochte er mit der Hand auf die Schreibtischplatte. 'Wohin, zum Kuckuck, geht er nur jeden Vormittag?' nörgelte er. Doch Thomas – sehr weise – tat, als hätte er nichts gehört.

Rezensionen zu diesem Buch

Düstere Schauplätze und fiese Gestalten

Edgar Wallace steht eigentlich schon für sich. Der schwarze Abt ist weder besonders spannend, noch besonders pfiffig aufgebaut. Aber ich liebe einfach diese Wallace-Krimi-Welt: die schwarz-weiß gezeichneten, leicht überzeichneten Charaktere und die düsteren Schauplätze in alten Schlössern mit geheimen Geheimgängen. Ein tolles Buch.

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Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
255 Seiten
ISBN:
9783954481620
Erschienen:
September 2013
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Otto A van Bebber
8
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 4 (5 Bewertungen)

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