Buch

Der Zinker - Edgar Wallace

Der Zinker

von Edgar Wallace

Es war eine stürmische Nacht. Regen und Schnee wurden vom Wind durch die Straßen gepeitscht. Kein normaler Mensch mochte sich während dieses Wetters auf Putney Common herumtreiben. Der eisige Wind drang durch Kleider, Mäntel und Handschuhe. Es war so dunkel, daß Larry Graeme trotz der Straßenlaternen seine elektrische Taschenlampe nehmen mußte, wenn er eine Straße überqueren wollte, sonst wäre er über die Bordsteine gestolpert.

In seinem langen Regenmantel und seinen Gummischuhen fühlte er sich ganz behaglich, obwohl ihm der große Regenschirm eher ein Hindernis als ein Schutz war. Als plötzlich ein Wirbelwind einsetzte und der Schirm umschlug, nahm er ihn herab und rollte ihn ein. „Ein bißchen Regen ins Gesicht ist gut für den Teint“, sagte er vergnügt zu sich selbst.

Er schaute auf das leuchtende Zifferblatt seiner Armbanduhr. Es fehlten nur noch ein paar Minuten bis halb, und der „Große Unbekannte“ war pünktlich auf die Minute - niederträchtig, gemein, aber pünktlich. Larry hatte mit dem „Großen Unbekannten“ schon früher Geschäfte gemacht, hatte sich aber geschworen, es nie wieder zu tun. Der Mann drückte die Preise, aber er hatte stets Geld, und wenn man an ihn verkaufte, so war das Risiko gleich Null. Larry hatte sich vorgenommen, ihn dieses Mal den vollen Preis zahlen zu lassen, er wollte keinen Einwand, kein Wenn und Aber gelten lassen. Die van-Rissik-Diamanten hatten ihren genauen und bekannten Wert. Alle Zeitungen waren voll von dem kühnen Raube, die Versicherer hatten den Wert der einzelnen Schmuckstücke in genauen Zahlen in die Zeitung gesetzt, und es bestand nicht der geringste Zweifel darüber, wieviel die Steine bringen würden, wenn sie im offenen Markt verkauft würden. Wegen der Größe der Sache hatte Larry die übliche Geheimannonce aufgegeben: „In der Gegend von Putney Common (in der Richtung nach Wimbledon) wurde am Donnerstag, abends um 10.30, eine kleine, gelbe Handtasche verloren. Inhalt fünf Briefe, die nur Wert für den Eigentümer haben.“

Die „gelbe Handtasche mit fünf Briefen“ war die Ankündigung für den „Großen Unbekannten“, daß ihm Juwelen angeboten wurden. Eine „braune Handtasche“ bezeichnete Pelzwaren, eine „weiße Handtasche“ zeigte an, daß der Annoncierende Banknoten hatte, die er veräußern wollte. Die „fünf Briefe“ besagten, daß sich der Wert der angebotenen Ware in einer fünfstelligen Zahl ausdrückte.

Und es war Donnerstagabend halb elf. Larry wartete in der Richmond Street. Der Wind trug den Klang der Kirchenglocken zu ihm herüber, die eben halb schlugen. „Pünktlich auf die Minute“, murmelte Larry vor sich hin. Er sah hinten in der Straße zwei dunkle Lichter erscheinen, die heller und heller wurden, je näher sie kamen. Plötzlich leuchteten die Hauptlampen auf, und der Mann an der Ecke des Bürgersteiges stand in einem hellen Lichtkegel.

Der Wagen fuhr langsamer und hielt direkt neben Larry. Von der Karosserie des Autos lief das Regenwasser herunter. Aus dem Innern des Coupes erklang eine etwas rauhe Stimme.

„Nun?“

„Guten Abend.“

Larry strengte sich an, die Gestalt im Innern zu erkennen. Er war sich darüber klar, daß ihm seine Taschenlampe in dieser Situation wenig nützen würde, da der „Große Unbekannte“ wahrscheinlich eine Maske trug. Aber -

Plötzlich fiel sein Blick auf die Hand, die auf der Ecke des Wagenschlags ruhte. Er bemerkte, daß der dritte Finger einen gespaltenen Nagel hatte, und daß eine doppelte weiße Narbe quer über das erste Gelenk lief. Die Hand wurde schnell zurückgezogen, als ob der andere den prüfenden Blick gesehen hätte.

„Ich möchte etwas verkaufen - gute Gelegenheit. Haben Sie die Zeitung gelesen?“

„Handelt es sich um die van-Rissik-Sache?“

„Wie Sie sagen. Wert zweiunddreißigtausend Pfund - macht hundertzweiunddreißigtausend Dollars, alles leicht zu verkaufen. Madame Rissik hat all ihr Geld in Steinen angelegt, aber nicht in französischem Schmuck, der blendend aussieht und keinen Wert hat. Ich will fünftausend mindestens haben -“

„Zwölfhundert“, hörte er die Stimme aus dem Innern. „Dabei bezahle ich Ihnen schon zweihundert mehr, als ich ursprünglich beabsichtigte.“

Larry atmete schwer.

„Mein Angebot ist vernünftig -“ begann er wieder.

„Haben Sie die Sachen hier?“

„Nein, ich habe sie nicht hier.“ Da er diese Worte aber so stark betonte, wußte der Mann im Wagen, daß Larry log. „Und ich werde die Sachen auch nicht eher bringen, als Sie geschäftsmäßig mit mir sprechen. Ein jüdischer Juwelier in Maida Vale hat mir schon dreitausend geboten und wird wahrscheinlich noch höher gehen. Aber ich würde Ihnen die Sachen lieber verkaufen - das Risiko ist geringer. Sie verstehen, was ich meine?“

„Ich werde Ihnen fünfzehnhundert geben - das ist mein letztes Wort“, sagte der Mann im Wagen. „Ich habe das Geld hier, und Sie tun gut daran, es anzunehmen.“

Larry schüttelte den Kopf.

„Ich halte Sie nur auf“, sagte er höflich.

„Sie wollen also nicht verkaufen?“

„Wir vergeuden beide nur unsere Zeit“, erwiderte Larry. Aber noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, war der Wagen bereits wieder angefahren, und das rote Schlußlicht verschwand in der stürmischen Nacht, ehe er die Wagennummer richtig sehen konnte.

Larry zündete seine Zigarre aufs neue an und ging zu dem kleinen Auto, das er in der einen Ecke des Platzes zurückgelassen hatte.

„Shylock1 dreht sich heute nacht im Grabe um“, sagte er halblaut zu sich selbst.

Kaum eine Woche später trat Larry Graeme aus dem Fiesole-Restaurant in der Oxford Street heraus. Niemand, der ihn sah, hätte ihn für etwas anderes als einen smarten Stadtmann in mittleren Jahren gehalten, der gerne gut aß und den Komfort des Lebens liebte. Die Gardenie, die er im Knopfloch trug, nickte vergnügt und schien anzuzeigen, daß er in guter Stimmung war. Er hatte auch allen Grund, zufrieden zu sein, denn die Juwelen der Mrs. van Rissik waren gut verkauft, und niemand in dem weiten Umkreis Londons wußte etwas von seiner Tat, denn er arbeitete allein.

Als er auf dem Bürgersteig stand und auf ein Auto wartete, trat plötzlich ein großer, stämmiger Mann an ihn heran und nahm ihn liebenswürdig am Arm.

„Hallo, Larry!“

Die lange, graue Asche an Larrys Zigarre fiel plötzlich aus keinem ersichtlichen Grunde zu Boden - dies war aber auch das einzige Zeichen seiner plötzlichen Verwirrung.

„Hallo, Inspektor!“ sagte er mit dem liebenswürdigsten Lächeln. „Freue mich, daß ich Sie wieder mal treffe!“

Larry sagte das so natürlich, daß es überzeugend klang. Er hatte sich, ohne den Kopf zu bewegen, blitzschnell umgesehen und drei andere Herren in der Nähe erkannt, die denselben Beruf wie Polizeiinspektor Elford ausübten. Er nahm deshalb sein Schicksal mit philosophischer Ruhe hin, stieg mit den Detektiven in das Auto und rauchte und plauderte mit großer Ruhe, bis der Wagen durch die enge Einfahrt von Scotland Yard bog und vor der Cannon-Row-Polizei-Station hielt.

Die Verhandlungen und Feststellungen dauerten nur kurze Zeit. Auf Larry Graemes dunklem Gesicht lag ein leichtes Lächeln, und er hörte schweigend zu, als ihm die Anklage vorgelesen wurde.

„Ich wohne in Claybury Mansions Nr. 98“, sagte er dann. „Es wäre sehr liebenswürdig, wenn Sie mir einen anderen Anzug von dort besorgten, denn ich möchte nicht gerne vor dem Untersuchungsrichter wie ein Oberkellner erscheinen. Inspektor Elford, ist es nicht möglich, daß ich Barrabal sprechen könnte, von dem ich soviel gehört habe? Man sagt, daß er sehr scharf ist. Ich kenne ein oder zwei Leute, denen ich es besorgen möchte!“

Elford glaubte, daß wenig Aussicht dazu vorhanden wäre, den geheimnisvollen Polizeioffizier zu sprechen, aber als sich die Stahltür hinter Larry geschlossen hatte, ging er hinüber in das Zentralgebäude und suchte Chefinspektor Barrabal in seinem Bureau auf, der mit einer Pfeife im Mund ruhig vor seinem Schreibtisch saß. Er war gerade mit einigen Schriftstücken beschäftigt, die von der Geheimregistratur herübergeschickt worden waren.

„Wir haben Larry festgenommen, Mr. Barrabal“, sagte Elford. „Er möchte Sie gerne sprechen - ich sagte ihm aber, daß es wahrscheinlich unmöglich sei. Aber Sie wissen ja, wie diese Leute sind.“

Der Chefinspektor lehnte sich in seinen Stuhl zurück und zog die Stirne kraus.

„Wie, der hat nach mir gefragt? Ich scheine also schon offiziell bekannt zu werden!“ meinte er halb vorwurfsvoll. Elford mußte laut lachen.

Man sprach allgemein in Scotland Yard darüber, daß Barrabal, durch den schon so viele Leute unerwartet vor Gericht gestellt wurden, niemals auf der Zeugenbank erschien und beinahe unbekannt war. Selbst den Zeitungsreportern, die sich nur mit der Berichterstattung über Verbrechen abgaben, bedeutete er nicht mehr als ein Name. Schon seit acht Jahren saß er in dem länglichen Raum im dritten Stockwerk zwischen Stößen von Akten. Er prüfte und verglich kleine Beweisstücke, die die Missetaten so manches klugen Menschen ans Licht brachten. Er entdeckte seinerzeit das System, nach dem der Holländer Goom arbeitete, der Bigamist und Mörder war. Und doch war er Goom niemals persönlich gegenübergetreten. Eine Verlustanzeige in einer Londoner Zeitung, die er mit einem Artikel in einer unbekannten deutschen Zeitschrift in Verbindung brachte, hatte die Brüder Laned lebenslänglich ins Zuchthaus gebracht, obwohl sie die schlauesten und vorsichtigsten Erpresser waren, die es jemals gegeben hatte.

„Ich will unseren Freund besuchen“, sagte er schließlich und stieg in die dunkle Zelle, um den mißmutigen Larry Graeme zu sprechen, der in seinem eleganten Gesellschaftsanzug mit der welken Gardenie im Knopfloch eine etwas sonderbare Figur machte.

Larry, der viele Polizeibeamte in England und in Amerika kannte, begrüßte ihn mit etwas gezwungenem Lächeln.

„Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Chefinspektor. Sie haben mich mit den gestohlenen Sachen geschnappt. Mein Fall wird Ihnen auch keine große Mühe machen - in meinem Koffer im Shelton-Hotel finden Sie genug, um mich zehnmal zu überführen. Zu große Vertrauensseligkeit ist immer meine Schwäche gewesen.“

Barrabal antwortete nicht, sondern wartete auf die Frage, die unvermeidlich kommen mußte.

„Wer hat mich angezeigt, Chefinspektor? Ich möchte nur dieses eine wissen, dann will ich auch mit Pauken und Trompeten ins Gefängnis einziehen. Ich muß wissen, wer der Zinker ist, der mich verpfiffen hat.“

Barrabal sprach noch immer nicht.

„Ich kenne nur drei Leute, die es sein könnten -“, Larry zählte sie an den Fingern her -, „ich möchte keine Namen nennen. Da ist erstens der Mann, der die Sachen gekauft hat - der hält dicht. Nr. 2 ist schlecht auf mich zu sprechen, aber der ist jetzt in Frankreich. Und dann ist noch drittens der Kerl mit dem gespaltenen Nagel da, der mir fünfzehnhundert für die Sache geboten hat, die doch mindestens zwölftausend wert ist. Aber der konnte mich doch unmöglich kennen.“

„Na, wenn Sie so behandelt worden sind, dann verzinken Sie doch selbst! Wer ist denn der Kerl mit dem gespaltenen Nagel?“ Larry grinste.

„Mögen solche Leute andere verzinken, denen es Spaß macht. Ich bin zu smart dazu. Ich stelle eine sonderbare Frage an Sie, das weiß ich wohl. Es hat noch niemals einen Polizeibeamten gegeben, der einen Zinker preisgab, der andere verpfiff.“

Er sah den Chefinspektor erwartungsvoll an, und Barrabal nickte. „Sie glauben also, daß einer von den drei Hehlern Sie angezeigt hat. Sagen Sie mir die drei Namen, und ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihnen den richtigen bestätige, wenn Sie ihn nennen.“

Larry sah ihn scharf an, schüttelte dann aber den Kopf.

„Ich kann doch nicht zwei verraten, um einen zu packen! Niemand weiß das besser als Sie, Barrabal.“

Der Chefinspektor strich nachdenklich über seinen kleinen schwarzen Schnurrbart.

„Ich habe Ihnen eine Chance gegeben“, sagte er dann. „Vielleicht besuche ich Sie morgen noch einmal, bevor Sie ins Untersuchungsgefängnis gebracht werden. Sie würden schließlich nur gut daran tun, wenn Sie mir im Vertrauen die drei Namen angeben würden.“

„Ich muß erst die Nacht noch darüber schlafen“, erwiderte Larry.

Barrabal ging langsam zu seinem Bureau zurück, schloß den Stahlschrank auf, nahm einen eisernen Kasten heraus und öffnete ihn. Er enthielt zahlreiche, maschinengeschriebene Papierstreifen, die offensichtlich alle mit derselben Maschine geschrieben waren. Manchmal standen nur ein paar Zeilen darauf, zuweilen waren es lange Berichte. Jeder Zettel enthielt eine anonyme Anzeige. Irgendwo in London lebte ein Mann, der die Hehlerei in ganz großem Maßstab betrieb und Agenten in jedem Distrikt der Stadt haben mußte. Bei jeder schmutzigen Sache hatte er die Hand im Spiel, und diese kleinen Papierblätter waren die Rache dafür, daß die Diebe ihre Beute nicht ihm, sondern anderen verkauft hatten. Er nahm den obersten Bogen auf.

„Larry Graeme hat die Juwelen der Mrs. van Rissik geraubt. Er verschaffte sich während einer großen Gesellschaft als Aushilfsdiener Eintritt in ihr Haus. Er verkaufte die Steine an Moropolos, einen griechischen Juwelier in Brüssel. Nur die eine Diamanten-Sternbrosche, die in Graemes Koffer im Shelton-Hotel liegt, wollte Moropolos nicht kaufen, weil sie aus rötlichen Diamanten bestand. Er fürchtete, daß sie zu leicht erkannt werden könnte.

P. S. Die Sternbrosche befindet sich in dem Geheimfach des Koffers.“

Keine Unterschrift. Es war dasselbe Papier wie all die anderen anonymen Anzeigen, die nach Scotland Yard gekommen waren.

Chefinspektor Barrabal strich seinen dunklen Schnurrbart wieder und schaute aus halbgeschlossenen Augen auf das Blatt.

„Zinker, ich werde dich fassen!“ sagte er dann halblaut zu sich selbst.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Krimis Thriller
Sprache:
deutsch
Umfang:
218 Seiten
ISBN:
9783954480166
Erschienen:
Mai 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
9.5
Eigene Bewertung: Keine
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