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Die Schuld des Anderen - Edgar Wallace

Die Schuld des Anderen

von Edgar Wallace

Am Nachmittag des 4. März 1913 saß Monsieur Trebolino, der Chef des französischen Geheimdienstes, nachdenklich in seinem Bureau. Er hatte den großen Schreibtischsessel an das Kaminfeuer geschoben, dessen helle Flammen munter emporschlugen. Der Tag war unangenehm kalt, und ganz Paris lag unter einer Schneedecke.

Frankreich hatte augenblicklich eine verhältnismäßig ruhige Zeit, in der wenig Verbrechen begangen wurden. Dieser Umstand war hauptsächlich der Tatkraft des genialen Italieners zuzuschreiben, der die französische Nationalität angenommen hatte.

Die Verbrechen waren nicht zahlreicher als sonst; das Geheimnis der „Sieben Banken“ war zur Zufriedenheit aufgeklärt, und Monsieur Trebolino erfreute sich ziemlicher Ruhe. Deshalb kümmerte er sich auch um kleinere Dinge, die gewöhnlich seine Untergebenen beschäftigten, und über einen solchen Fall dachte er gerade nach. Merkwürdigerweise nahm diese Sache seinen ruhelosen Geist mehr als sonst gefangen, und das wollte bei einem Mann, der das Verbrechen so wirksam bekämpfte, viel sagen.

Er drückte auf eine elektrische Klingel neben dem Kamin. Gleich darauf trat ein Sekretär ein.

„Schicken Sie Monsieur Lecomte zu mir.“ Trebolino wandte den Blick nicht von den züngelnden Flammen, als er sprach.

Etwas später klopfte es, und in dem Türrahmen erschien der tüchtige Lecomte, der dazu ausersehen war, einmal der Nachfolger seines Vorgesetzten zu werden.

„Nehmen Sie, bitte, Platz“, sagte der große Detektiv, indem er den anderen mit einem wohlwollenden Lächeln betrachtete. „Haben Sie schon einmal von einem gewissen ,Klub der Verbrecher’ gehört, der hier in Ihrem schönen Paris besteht?“

Lecomte nickte.

„Dieser Klub ist ganz interessant“, fuhr Trebolino fort. „Aber ich bin in Sorge deshalb und denke, daß es das Beste wäre, damit Schluß zu machen - diese Studenten sind verteufelt unruhig.“

„Ich glaube, daß die Sache in sich selbst zusammenbrechen wird“, meinte Lecomte.

Trebolino zog die Lippen zusammen wie jemand, der alle Möglichkeiten überdacht und sich für eine entschieden hat. „Was wissen Sie überhaupt davon?“

„Nicht mehr als Sie selbst“, antwortete Lecomte, der seine Hände ans Feuer hielt, um sie zu wärmen. „Eine Anzahl von Studenten hat sich zusammengeschlossen. Bei ihren Zusammenkünften haben sie feierliche Rituale, gebrauchen Paßworte, leisten Eide - kurz, sie treiben all das, was man sonst bei Geheimbruderschaften oder Logen kennt. Ihre Zusammenkünfte finden an verschiedenen geheimen Plätzen statt, die der Polizei mindestens eine Woche vorher bekannt sind.“

Lecomte lächelte leicht, und Trebolino nickte ihm zu.

„Jedes Mitglied des Klubs schwört, irgendein Gesetz Frankreichs zu übertreten“, fuhr Lecomte fort. „Bis jetzt haben sie ihre Gesetzwidrigkeiten allerdings nur soweit getrieben, daß sie einen armen Gendarmen belästigten.“

„Sie haben ihn in die Seine geworfen“, bemerkte Trebolino. „Und zwei der bösen Buben wären beinahe dabei ertrunken, als sie ihn wieder herausfischten. Wir haben sie zwei Tage eingesperrt und außerdem noch mit hundert Franken Geldstrafe belegt.“

„Ist sonst nichts passiert?“

„Nein, nichts von Bedeutung - ihre sogenannten Verbrechen sind sonst nur operettenhafte Extravaganzen.“

Aber der Polizeichef schien noch nicht befriedigt zu sein. „Wir wollen diesen Torheiten doch lieber ein Ende machen“, sagte er langsam. „Ich verstehe Studenten, ihre Meinungen, ihren jugendlichen Übermut - aber ich denke eben an ein Mitglied dieses Kreises, ich meine Willetts.“

Lecomte nickte.

„Dieser Willetts“, fuhr der Polizeichef fort, „ist so etwas wie ein Künstler. Er wohnt mit Comstock Bell, einem jungen Amerikaner, zusammen.“

„Das heißt, er wohnte“, verbesserte Lecomte. „Mr. Bell ist wohlhabend und lebt ganz seine Neigungen. Er ist auch ein Mann von sehr feinem Geschmack, und Mr. Willetts trinkt.“

„Dann haben sie sich also getrennt?“ Trebolino klopfte mit einem Goldring gegen seine Zähne. „Das hatte ich noch nicht gehört. Ich erfuhr nur, daß die beiden sich verschworen hatten, uns recht unangenehme Überraschungen zu bereiten. Sie verstehen mich doch? Ich meine dabei nicht Gendarmen verprügeln, öffentliche Uhren zerschlagen, sondern wirkliche Verbrechen - Mord.“

Er erhob sich plötzlich.

„Unter diesen Umständen ist es das einzig Richtige, solche Studentenstreiche zu unterbinden. Die Sache wird verflucht ernst! Das Quartier Latin muß sich andere Vergnügungen aussuchen. Ich habe die jungen Studenten sehr gern, es sind ganz liebe Kerle. In der Jugend schlägt man auch einmal über die Stränge, aber die Sache muß denn doch in ihren Grenzen bleiben. Also, Monsieur Lecomte, bitte, kümmern Sie sich weiter darum und berichten Sie mir dann.“

Lecomte verließ das Bureau seines Chefs und war eigentlich ein wenig belustigt, denn er kannte ja alle Studenten des „Klubs der Verbrecher“ sehr gut. Von Zeit zu Zeit speiste er mit ihnen zusammen und war in ihrem Kreis eine bekannte Erscheinung. Noch am selben Abend ging er nach Bureauschluß zum „Cafe der Barbaren“.

„Guten Abend, Herr Staatsanwalt“, wurde er von allen Seiten fröhlich begrüßt. Ein Student machte ihm an einem großen Tisch einen Platz frei, und ein anderer hübscher, junger Mann räumte die Teller und Gläser beiseite, die dort standen.

Lecomte betrachtete ihn mit außergewöhnlichem Interesse. Er war groß, schlank, athletisch gebaut und hatte große, graue, gutmütige Augen.

„Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen, um als Polizeichef einer interessanten Unterhaltung beizuwohnen, die sich um Eigentum und Anarchismus in Frankreich dreht. Unser Freund“ - er zeigte mit dem Kopf auf einen jungen Franzosen mit wirren Locken und verwildertem Bart - „äußerte eben, als Sie eintraten, daß die Ermordung eines Polizeispitzels durch den göttlichen Aristoteles gerechtfertigt wird.“

„Ich gehöre zur Schule der Stoiker“, entgegnete Lecomte ruhig. „Aber was bezwecken Sie denn eigentlich damit?“

„Wir wollen die Anarchie“, rief der junge Mann mit dem struppigen Bart erregt. „Es ist die einzige, wirklich richtige Staatsordnung - das Gesetz -“

„Außerdem haben Sie rote Augen und sind ein Greenhorn“, sagte der junge Polizeibeamte lachend, als er sich ein Glas Wein eingoß.

„Ich bin bereit, darüber mit Ihnen zu debattieren“, erwiderte der andere, als sich das Gelächter, das sich nach dieser Bemerkung erhob, gelegt hatte. „Mein Freund Willetts -“ Er deutete auf einen etwas müde dreinschauenden jungen Mann mit blassen Zügen und fuhr dann fort, seine Behauptungen über die Richtigkeit der Anarchie durch allerhand Erlebnisse und Erfahrungen zu bekräftigen, die sein Freund Willetts gemacht hatte.

„Ist dieser Willetts auch Ihr Freund, Mr. Bell?“ fragte Lecomte leise.

Der Student neben ihm zog die Augenbrauen hoch.

„Wie meinen Sie das?“ fragte er kühl.

Lecomte zuckte die Schultern.

„Wir erfahren mancherlei“, sagte er leichthin, „besonders was Ihren ,Klub der Verbrecher’ angeht.“

Comstock Bell sah ihn argwöhnisch, fast ängstlich an.

„Die ganze Angelegenheit ist doch nur ein Scherz begann er, verstummte aber sofort wieder, und Lecomte gab sich vergeblich Mühe, ihn noch einmal zum Reden zu bringen.

Plötzlich erhob sich allgemeines Stimmengewirr in der Versammlung.

Ein Student hatte eine Frage aufgeworfen. Lecomte schüttelte abweisend den Kopf.

„Nein - gestorben ist er nicht, bloßes Untertauchen genügt nicht, um einen richtigen Polizisten ins Jenseits zu befördern. Also, meine Herren, bei Erwähnung dieser Sache möchte ich Ihnen sagen, daß es hohe Zeit ist, Ihren ,Klub der Verbrecher’ aufzulösen, um mit den Worten des Polizeipräsidenten zu sprechen.“

„Und in Zukunft?“ rief Willetts mit schriller Stimme. Er hatte scheinbar bis dahin geschlafen und sich an der ganzen Unterhaltung kaum beteiligt.

Lecomte beobachtete ihn. Die unnatürliche Blässe dieses Gesichtes war ihm schon vorher aufgefallen. Auf den Wangen zeigten sich rote, kreisrunde Flecken, die von dem unsoliden Lebenswandel des jungen Mannes zeugten.

Willetts hatte seine Schläfrigkeit abgeschüttelt und blickte lebhaft um sich.

„Also, in Zukunft, meine Herren, müssen wir unseren Klub schließen“, sagte er mit erhobener Stimme. „Aber der Geist dieses Klubs soll bestehen, seinen Namen rechtfertigen und in den würdigen Mitgliedern fortleben!“

Lecomte beobachtete Comstock Bell, und es schien ihm, daß er etwas blasser wurde, als der angetrunkene Willetts weitersprach.

„Sehen Sie drüben, Mr. Bell!“ Willetts machte eine kleine Verbeugung zu dem anderen und wäre dabei beinahe über den Tisch gefallen, wenn ihn nicht sein Freund, der Anarchist, am Arm festgehalten hätte.

„Mr. Bell ist der große Amerikaner, ein Kapitalist vom reinsten Wasser, und bis vor kurzem war er auch mein ehrenwerter Kamerad als Verbrecher. Aber jetzt können wir uns nicht mehr verstehen, Mr. Bell ist zu vorsichtig und zu wohlerzogen.“ Er sagte das mit einem ironischen Unterton. „Jawohl, du gehörst zur Bourgeoisie, mein lieber Bacchus! Er versteht es eben nicht, das Leben in vollen Zügen zu trinken, und das ist doch das alte Vorrecht der Studenten. Und er kann es auch nicht, weil er zu feige dazu ist!“

Die letzten Worte hatte er laut über den Tisch gerufen. Willetts war in seiner Betrunkenheit niederträchtig, das wußten alle.

Comstock Bell antwortete nicht, er sah den anderen nur fest an.

„Wir haben nämlich -“ sprach Willetts mit lauter Stimme weiter, als plötzlich ein Herr in das Cafe eintrat, sich suchend umschaute und zu Lecomte ging.

„Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Augenblick, meine Herren“, sagte der Polizeibeamte, erhob sich und trat zu dem Fremden. Sie unterhielten sich leise miteinander. Die Studenten sahen, daß Lecomte die Stirn runzelte, hörten einen unterdrückten Ausruf und beobachteten, wie er sich halb nach dem Tisch umdrehte, aber dann sprach er weiter. Erst nach einiger Zeit kam er zurück.

„Meine Herren“, sagte er, und seine Stimme hatte einen harten Klang. „Heute nachmittag wurde eine englische Fünfzigpfundnote in Cooks Reisebureau am Place de l’Opera gewechselt - und diese Note war gefälscht!“

Niemand sprach, es herrschte ein tödliches Schweigen.

„Die Note wurde von einem Studenten gewechselt, und auf der Rückseite war mit Bleistift ,K. d. V.’ geschrieben. Hier hört der Spaß auf, und ich fordere denjenigen von Ihnen auf, der hierfür verantwortlich ist, morgen früh auf der Polizeidirektion zu erscheinen!“

Am nächsten Tage kam niemand zum Bureau Trebolinos. Willetts wurde noch am selben Abend telegraphisch nach London zurückgerufen, und Comstock Bell verließ Paris mit demselben Zuge.

Lecomte beobachtete ihre Abfahrt, obwohl es die beiden nicht wußten. Drei Tage später erhielt er eine englische Fünfzigpfundnote in einem Briefumschlag. Es war kein Absender und keine Adresse angegeben, und in dem Kuvert befand sich außer der Banknote nur ein Stück Papier. Darauf stand mit Maschine geschrieben: „Bitte, bezahlen Sie mit diesem Geld die Firma Cook.“

Lecomte berichtete diese Angelegenheit seinem Vorgesetzten. Trebolino nickte.

„Wir wollen die Sache damit erledigt seinlassen. Es hat keinen Zweck, in der Öffentlichkeit einen großen Skandal hervorzurufen.“

Er legte die gefälschte Banknote in seinen Schreibtisch und vergaß bald die ganze Angelegenheit. -

Einige Jahre später wurde der große Detektiv Trebolino erschossen, als er einen Anarchisten festnehmen wollte. Sein Vertreter fand in dem Schreibtisch eine englische Fünfzigpfundnote, die offenbar gefälscht war.

„Es ist das beste, sie der Bank von England einzuschicken“, sagte er zu dem wartenden Sekretär.

Lecomte hätte erklären können, wie diese Banknote in Trebolinos Besitz gekommen war, aber er befand sich zu dieser Zeit in Lyon.

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
252 Seiten
ISBN:
9783954480609
Erschienen:
August 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
8.5
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