Buch

Die seltsame Gräfin - Edgar Wallace

Die seltsame Gräfin

von Edgar Wallace

Lois Margeritta Reddle saß auf der Kante ihres Bettes und hielt in der einen Hand eine große Tasse, in der anderen einen Brief. Die dicke Brotschnitte war zu dünn gestrichen, der Tee zu schwach aufgekocht und zu stark gezuckert, aber die Lektüre nahm Lois so sehr in Anspruch, daß ihr diese kleinen Nachlässigkeiten ihrer Freundin Lizzy Smith nicht zum Bewußtsein kamen. Eine goldene Krone schmückte den Briefbogen, und das starke und griffige Papier strömte einen leichten Duft aus. „307 Chester Square, S. W. Die Gräfin von Moron hat mit Vergnügen die Nachricht erhalten, daß Miß Reddle ihre Stellung als Privatsekretärin am Montag, den 17. antritt. Miß Reddle kann versichert sein, daß sie einen angenehmen Posten und viel freie Zeit zur Erholung haben wird." Die Tür wurde aufgestoßen, und Lizzys strahlendrotes Gesicht erschien im Rahmen. „Das Bad ist fertig“, sagte sie kurz. „Nimm besser deine eigene Seife - durch die dünne Scheibe, die noch da ist, kannst du durchgucken. Hier hast du ein ganz frisches Handtuch, und hier ist ein halbnasses. Was steht denn in dem Brief?“ „Er ist von meiner Gräfin - ich fange am Montag bei ihr an.“ Lizzy zog ein schiefes Gesicht. „Du schläfst natürlich auch dort? Das heißt also, daß ich mir wieder jemand suchen muß, der hier bei mir wohnt. Die Letzte, mit der ich vor dir zusammenhauste, schnarchte. Aber das gute Zeugnis kann ich dir wenigstens ausstellen, Lois, du hast nicht geschnarcht.“ Lois’ Augen blitzten schalkhaft auf, und um ihren ausdrucksvollen Mund spielte ein Lächeln. „Du kannst dich aber nicht beklagen, daß ich dich nicht ordentlich versorgt habe“, sagte Lizzy selbstzufrieden. „Ich will wetten, daß du selbst einsiehst, wie gut ich unseren Haushalt geführt habe, besser als alle anderen, mit denen du früher einmal zusammenwohntest. Ich habe dir alle Haushaltsorgen abgenommen, alles besorgt, eingekauft, gekocht und getan - das gibst du doch zu?“ Lois legte ihren Arm um die Freundin und küßte ihr einfaches, gutmütiges Gesicht. „Ja - du warst eine Perle, und es tut mir sehr leid, daß ich fortgehen muß. Aber ich habe schon mein Leben lang immer versucht, vorwärtszukommen. Von der Schulbank in Leeds kam ich an das kleine Kassenpult bei Rooper und von dort zu einer Drogerie, dann zu der großen Rechtsanwaltsfirma -“ „Groß?“ unterbrach sie Lizzy böse. „Du willst den alten Shaddles doch nicht etwa groß nennen? Der Teufel hat mir zu Weihnachten nicht einmal das Gehalt um zehn Schilling erhöht, und ich habe doch jetzt fünf Jahre lang die Schreibmaschine bei ihm geklopft! - Aber, mein Liebling, du wirst nun eine gute Partie machen, du wirst jemand aus der Gesellschaft heiraten. Die Gräfin ist sicher ein weiblicher Drache, aber sie ist reich, und du triffst vornehme Leute bei ihr. - Jetzt mußt du aber gehen und dein Bad nehmen, ich mache inzwischen die Setzeier. Werden wir bald Regen bekommen?“ Lois rieb ihre weißen, wohlgerundeten Arme und fuhr leise mit der Hand über eine kleine, schwach rotschimmernde, sternförmige Narbe kurz über ihrem Ellenbogen. Lizzy glaubte fest daran, daß es Regen geben würde, wenn Lois’ Narbe sich dunkler färbte. „Das Ding mußt du dir elektrisch wegmachen lassen“, sagte das frische, derbe Mädchen, aber Lois schüttelte leicht den Kopf. „Du kannst auch lange Ärmel tragen, sie sind in dieser Saison ebenso modern wie Krinolinen.“ Lois hörte während des Bades ihre Freundin in der kleinen Küche umherwirtschaften. Während die Setzeier in der Pfanne bruzzelten, pfiff Lizzy unbeirrt den letzten Tanzschlager. Die beiden hatten zusammen das Obergeschoß eines Hauses in der Charlotte Street gemietet, seitdem Lois nach London gekommen war. Sie war eine Waise, ihr Vater starb, als sie noch ein kleines Kind war, und sie konnte sich auch nur dunkel auf die freundliche, mütterliche Frau besinnen, die sie während ihrer ersten Schulzeit betreut hatte. Später wurde sie von einer weitläufig verwandten Tante erzogen, die sich nur um ihre vielen eingebildeten Leiden kümmerte. Sie starb bald, trotz ihrer vielen Medizinflaschen oder vielleicht gerade deshalb, und Lois kam dann zu fremden Leuten. „Der Gräfin wird deine vornehme Ausdrucksweise gefallen“, sagte Lizzy, als das hübsche Mädchen wieder in die Küche zurückkam. Trotz des Charleston schien sie eifrig über die neue Stellung der Freundin nachgedacht zu haben. „Ich wüßte nicht, daß ich vornehm spreche“, sagte Lois in guter Laune. Lizzy schwenkte mit einer geschickten Bewegung die Eier aus der Bratpfanne auf den Teller. „Ich wette, daß auch ihn das sofort für dich eingenommen hat“, meinte sie bedeutungsvoll. Lois errötete. „Wenn du doch nicht immer von diesem schrecklichen Menschen sprechen wolltest, als ob er ein junger Gott wäre!“ erwiderte sie kurz. Lizzy Smith ließ sich aber nicht im mindesten aus der Fassung bringen. Sie wischte ihre Stirn mit dem Handrücken ab, stellte die Bratpfanne an ihren Platz zurück und setzte sich energisch an den Tisch. „Hör mal, das ist kein gewöhnlicher Mensch! Er gehört nicht zu diesen Gecken, die einen auf der Straße ansprechen“, sagte Lizzy, in Erinnerung versunken. „Ich bitte dich, der ist doch Klasse. Wie er mir dankte, hat er mich wie eine Lady behandelt, und während der ganzen Unterhaltung ist kein Wort gefallen, das nicht auf der ersten Seite einer frommen Sonntagszeitung hätte stehen können. Als ich dann aber kam und dich nicht mitbrachte, war er furchtbar enttäuscht, und es war wirklich kein Kompliment für mich, daß er ganz verlegen dreinschaute und sagte: ,Ach, ist die nicht mitgekommen?’“ „Die Setzeier sind angebrannt“, sagte Lois. „Er ist wirklich ein feiner Kerl“, fuhr Lizzy fort, „ein Gent! Hat seinen eigenen Wagen, spaziert in Bedford Row auf und ab, nur um dich einmal kurz von weitem sehen zu können. Solche Anhänglichkeit würde selbst das härteste Herz aus Stein erweichen.“ „Meins ist aber aus Bronze“, erwiderte Lois vergnügt. „Du machst dich lächerlich, Elisabeth!“ „Du bist die erste, die mich seit meiner Taufe Elisabeth genannt hat. Aber das ändert an der Sache gar nichts, soweit ich daran beteiligt bin. Mr. Dorn -“ „Der Tee schmeckt nach ausgelaugtem Holz“, unterbrach sie Lois, und diesmal fühlte sich Lizzy doch getroffen. Es entstand eine Pause. „Hast du den alten Mackenzie in der vergangenen Nacht gehört?“ begann Lizzy dann wieder. „Nein? Er hat dieses süße Stück aus Hoffheims Erzählungen - Hoffmanns Erzählungen wollte ich sagen - gespielt. Ich verstehe nicht, daß ein Schotte Violine spielen kann, ich dachte, sie wären alle Dudelsackpfeifer.“ „Er spielt wundervoll. Manchmal, aber nur selten, höre ich seine Musik in meinen Träumen.“ Lizzy murrte. „Mitten in der Nacht macht man keine Musik“, sagte sie böse. „Wenn er auch unser Hausherr ist, so haben wir doch das Recht auf Schlaf. Er ist eben verrückt, das ist es.“ „Mir gefällt er aber gerade mit seinen Eigenheiten gut, er ist ein lieber, alter Mann.“ Lizzy rümpfte die Nase. „Alles zu seiner Zeit“, sagte sie, stand auf und holte eine dritte Tasse aus dem Küchenschrank. Sie stellte sie geräuschvoll auf den Tisch und goß Tee und reichlich Milch ein. „Heute bist du an der Reihe, ihm den Tee hinunterzutragen. Vielleicht kannst du eine Bemerkung fallenlassen, daß ich am liebsten ,Mondnacht in Italien’ höre.“ Die Mädchen hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, dem alten Mann, der die Etage unter ihnen bewohnte, jeden Morgen eine Tasse Tee zu bringen. Ganz abgesehen von seiner Eigenschaft als Hauswirt stand der alte Herr mit den beiden Mädchen auf gutem Fuße. Die Miete, die sie zahlten, war im Verhältnis zu der zentralen Lage des Hauses und der hervorragenden Beliebtheit dieser Gegend sehr klein. Lois trug die Tasse die Treppe hinunter und klopfte an eine der beiden Türen auf dem unteren Treppenpodest. Schlürfende Schritte näherten sich auf dem harten Fußboden, die Tür öffnete sich und Mr. Mackenzie verneigte sich mit einem dankbaren Blick über seine Hornbrille hinweg. Er betrachtete die hübsche Erscheinung des Mädchens wohlgefällig. „Tausend Dank, Miß Reddle“, sagte er eifrig, als er ihr die Tasse abnahm. „Wollen Sie nicht ein bißchen hereinkommen? Ich habe meine alte Violine zurückbekommen. Habe ich Sie letzte Nacht gestört?“ „Nein. Leider habe ich Sie nicht gehört“, sagte Lois, als er die Tasse auf die sauber gescheuerte Platte des einfachen Tisches stellte. Das Zimmer war peinlich sauber und nur mit dem Allernotwendigsten möbliert. Aber es paßte so recht zu diesem kleinen, alten Herrn mit den bauschigen Hosen, den feuerroten Pantoffeln und der schwarzen Sammetjacke. Runzeln und Falten durchzogen sein glattrasiertes Gesicht, aber die hellen, blauen Augen, die unter buschigen Brauen saßen, waren voller Leben und Güte. Er nahm die Violine, die auf einer Kommode lag, behutsam, fast zärtlich in die Hand. „Musik ist ein hoher Beruf“, sagte er, „wenn man ihr genügend Zeit widmen kann. Aber die Bühne ist etwas Fürchterliches! Gehen Sie niemals zum Theater, mein liebes Fräulein, bleiben Sie hübsch auf der anderen Seite der Rampenlichter. Diese Komödianten sind sonderbare, unaufrichtige Leute.“ Er nickte nachdenklich. „Früher saß ich ruhig und geborgen im tiefen Orchester und beobachtete nur, wie ihre kleinen, süßen Füße über die Bühne trippelten. Sie war ein schönes Mädchen, nicht viel älter als Sie, aber sehr hochmütig, wie die Schauspielerinnen eben sind. Wie ich den Mut fand, sie anzusprechen und zu fragen, ob sie mich heiraten wollte, verstehe ich heute selbst nicht mehr.“ Er seufzte schwer. „Ach ja, und doch war es für mich Narren ein Paradies, und das Leben mit ihr war schöner als die Einsamkeit, wenn ich auch betrogen und ausgenützt wurde. Zwei Jahre lang -“ Er schüttelte den Kopf. „Sie war ein süßes Geschöpf, aber sie war verbrecherisch veranlagt. Manche jungen Mädchen sind leider so. Sie haben kein Gewissen und fühlen keine Reue, und wenn man kein Gewissen und keine Reue kennt und jenseits von Gut und Böse ist, dann gibt es nichts, was man nicht tun könnte - bis zum Mord.“ Lois hatte ihn schon öfter über diese sonderbare Frau klagen hören, ohne daß sie aus seinen Äußerungen ein klares Bild gewinnen konnte, aber heute hatte er zum erstenmal ihre verbrecherische Veranlagung erwähnt. „Frauen sind merkwürdige Geschöpfe, Mr. Mackenzie“, sagte sie scherzend. Er nickte. „Ja, das sind sie“, erwiderte er schlicht. „Aber im allgemeinen sind sie den meisten Männern überlegen. Ich danke Ihnen auch schön für den Tee, Miß Reddle.“ Sie stieg die Treppe wieder hinauf. Lizzy zog gerade ihren Mantel an. „Na, hat er dich wieder vor der Bühne gewarnt?“ fragte sie, als sie zu dem kleinen Spiegel trat und sich puderte. „Ich möchte wetten, daß er wieder davon anfing. Gestern habe ich zu ihm gesagt, daß ich auch ein schönes Chormädchen werden wollte. Da hätte er beinahe einen Anfall bekommen!“ „Du mußt den netten, alten Herrn doch nicht so aufziehen!“ „Er müßte doch etwas mehr Verstand haben“, sagte Lizzy verächtlich. „Ich - hübsches Chormädchen! Wo hat denn der seine Augen gelassen?“

Weitere Infos

Art:
eBook
Genre:
Historische Romane
Sprache:
deutsch
Umfang:
260 Seiten
ISBN:
9783954480623
Erschienen:
September 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
10
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 5 (1 Bewertung)

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