Buch

Die vierte Plage - Edgar Wallace

Die vierte Plage

von Edgar Wallace

Antonio Tillizini war in der ganzen Welt berühmt, besonders nachdem er die aufsehenerregende Rede über Kriminalistik in der Wissenschaftlichen Gesellschaft in London gehalten hatte. Als Thema hatte er sich die Unzulänglichkeiten des Strafgesetzbuches gewählt, und dann hatte er Vorschläge gemacht, es zu verbessern. Im Laufe des Abends hatte er offen zugegeben, daß er während seiner langen Praxis selbst zehn Schwerverbrecher getötet hatte. Weiter sagte er darüber nichts. Aber das schadete ihm in seinem Ansehen durchaus nicht. Nach wie vor verkehrte er in der besten Gesellschaft. Außerdem hatte ihn die Regierung um seinen Rat in wichtigen Angelegenheiten gefragt, besonders als die Verbrechen der „Roten Hand“ in England überhandnahmen. Da er eine vielgenannte, geheimnisvolle Persönlichkeit war, bildeten sich allerhand Legenden um ihn. Man sagte, daß er die Geheimnisse der Borgias kenne, und einige Leute glaubten sogar, daß er sich auch mit der Schwarzen Kunst, mit Zauberei und Geisterbeschwörungen befaßte. Vor allem wurden diese Dinge in der italienischen Kolonie in London verbreitet. Sein Ansehen und sein Ruf halfen ihm, als er die „Rote Hand“ bekämpfte. Diese Geheimgesellschaft hatte lange Jahre die Vereinigten Staaten von Amerika unsicher gemacht, und nur der Umsicht und Tüchtigkeit des berühmten Polizeiinspektors Turn von Cincinnati war es zu verdanken, daß ihre Tätigkeit in Amerika unmöglich gemacht wurde. Harte Gesetze waren erlassen worden, um sie zu bekämpfen. Die Amerikaner wandten ja von jeher den dritten Grad an; aber durch besondere Verordnungen wurde außerdem gestattet, gegen Mitglieder dieser Bande brutal vorzugehen, so daß die Methoden bei den Verhören fast denen der spanischen Inquisition glichen. Das war aber notwendig, um der Ausbreitung der Verbrechen Herr zu werden. Es handelte sich damals hauptsächlich um Erpressung und Mord. Nachdem sieben berüchtigte Verbrecher in Pittsburg durch den elektrischen Stuhl hingerichtet worden waren, flaute die Tätigkeit der „Roten Hand“ ab und wurde schließlich ganz gebrochen. Lange Zeit hörte man nichts mehr davon. Erst im Dezember 1921 erhielt Carlo Gattini, ein reicher Italiener, der am Cromwell Square in London wohnte, einen maschinengeschriebenen Brief, in dem er aufgefordert wurde, tausend Pfund unter einer bestimmten Bank im Hyde Park niederzulegen. Datum und genaue Stunde waren angegeben; statt jeder Unterschrift war mit einem Gummistempel eine rote Hand unter den Text gedruckt. Mr. Gattini lächelte, als er es sah, und übergab den Brief der Polizei. Auf ihre Anregung hin gab er in den Annoncen der „Times“ eine zustimmende Antwort. Ein Pack von gefälschten Banknoten wurde unter die betreffende Bank gelegt, und Geheimpolizisten von Scotland Yard warteten einen ganzen langen Abend auf den Abgesandten der Bande, der aber nicht erschien. Entweder hatte er Verdacht geschöpft, oder er wußte, daß er verhaftet werden sollte. Die Polizei glaubte, daß damit die Sache erledigt sei. Aber am nächsten Morgen erhielt Gattini einen weiteren Brief. „Wir geben Ihnen noch eine Chance“, stand darin. „Wenn Sie noch einmal zur Polizei gehen, sterben Sie. Zur Strafe für Ihren vorigen Ungehorsam legen Sie zweitausend Pfund in Banknoten unter den ersten Busch links von der Tür in Ihrem Garten!“ Bestürzt wandte sich Gattini an die Polizei. Man beruhigte ihn dort und sagte, daß er absolut ruhig sein sollte. Geheimpolizisten wurden im Haus und im Garten aufgestellt. Andere Beamte beobachteten den Eingang zum Garten von den gegenüberliegenden Häusern aus. Aber wieder tauchte der Bote nicht auf. Auch erhielt Gattini keine weitere Mitteilung. Am Weihnachtsabend kehrte Mr. Gattini nach Hause zurück. Er war Witwer und lebte allein. Nur vier Dienstboten wohnten in seinem Hause, eine ältere Frau, die die Küche verwaltete, ein Zimmermädchen und zwei Diener. Um halb acht Uhr abends ging der Kammerdiener zu dem Zimmer seines Herrn, um ihm mitzuteilen, daß das Essen fertig sei. Die Tür war verschlossen. Der Diener klopfte, erhielt aber keine Antwort. Er kehrte darauf zum Wohnzimmer der Dienerschaft zurück und berichtete, was er vorgefunden hatte. Darauf begleitete ihn der Chauffeur auf die Straße hinaus, und sie sahen von draußen durch das Fenster von Mr. Gattinis Zimmer. Drinnen war es dunkel. Zufällig kam in dem Augenblick ein Beamter von Scotland Yard, der sich noch über die Drohbriefe erkundigen wollte, und erfuhr von den merkwürdigen Vorgängen. Die drei klopften noch einmal an der Tür, dann drückten sie die Füllungen ein und öffneten gewaltsam. Als sie das Licht andrehten, entdeckten sie zuerst nichts. Das Zimmer war allem Anschein nach leer. Aber dann sahen sie, was vorgefallen war. Mr. Gattini war von hinten erstochen worden, als er vor seinem Frisiertisch saß. Der Dolch war nicht mehr zu finden, aber eine genaue Untersuchung ergab, daß der Mann sofort tot gewesen war und wahrscheinlich keinen Laut von sich gegeben hatte. Das war der erste Mord - weitere folgten. Sir Christoforo Angeli, ein reicher Bankier, der die englische Staatsangehörigkeit erworben hatte, nahm den Drohbrief ebenso leicht wie Gattini. Er wurde eines Nachmittags erschossen, als er an das Fenster seiner Wohnung trat. Von dem Mörder war keine Spur zu finden. Dann flauten die Verbrechen ab. Die Polizei gab sich die größte Mühe, einen Anhaltspunkt zu finden. Scotland Yard war es klar, daß dieses Nachlassen der Morde nicht etwa mit einem Aufhören der Verbrechen zu tun hatte. Die Bande setzte ihre Tätigkeit nur um so intensiver fort. Aber sie hatte vollen Erfolg. Die Einwohner Londons waren durch die vorhergehenden Ereignisse erschreckt und ängstigten sich so um ihr Leben, daß sie lieber die Erpressungssummen zahlten und der Polizei nichts mitteilten. Als nun alle reicheren Mitglieder der italienischen Kolonie in London gebrandschatzt waren, erweiterte die Geheimgesellschaft ihre Tätigkeit und suchte sich andere Opfer. Henry S. Grein, ein reicher Chicagoer Börsenmann, der sich in London niedergelassen hatte und in ganz Europa wegen seiner großen Kunstsammlungen bekannt war, erhielt die bekannte maschinengeschriebene Drohung. Er setzte sich sofort telephonisch mit Soctland Yard in Verbindung, und die beiden Beamten wurden ausgeschickt, um den Millionär im Fitz-Hotel zu sprechen. „Es fällt mir nicht im mindesten ein, auch nur einen Cent zu zahlen“, erklärte Mr. Grein. Er war ein sehr energischer Mann, hatte ein hartes Gesicht und ein eckiges, vorstehendes Kinn. Die Beamten sahen, daß er sich den Bedingungen der „Roten Hand“ nicht unterwerfen würde. „Es ist Ihre Sache, mich zu beschützen und dafür zu sorgen, daß ich nicht ermordet werde. Treffen Sie alle Vorkehrungen und Vorsichtsmaßregeln, wie Sie es für richtig halten. Aber ich setze eine Belohnung von zwanzigtausend Dollars aus, wenn Mitglieder der Bande oder ihr Führer verhaftet werden.“ Dann begann ein außerordentlicher Kampf, der erst die Augen des Publikums öffnete und zeigte, wie weit es schon gekommen war. Eines guten Tages wurde Grein von einem Mörder auf dem Dachgarten des Fitz-Hotels überfallen, es gelang dem Millionär jedoch, den Angriff abzuwehren. Kurz darauf schoß er Antonio Ferrino nieder, der sich in sein Schlafzimmer geschlichen hatte, und dann wurde das Interesse der Öffentlichkeit durch einen Dynamitanschlag auf das ganze Hotel erregt. Und kurz darauf wurde eines Morgens die Leiche Henry S. Greins in der Themse gefunden, und zwar in der Nähe von Scotland Yard. Daraufhin wandte sich die Regierung an Tillizini.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
254 Seiten
ISBN:
9783954480517
Erschienen:
Oktober 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
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