Buch

Gucumatz - Edgar Wallace

Gucumatz

von Edgar Wallace

Das rätselhafte Geheimnis im Falle Lane, das fast ans Sagenhafte grenzte, beunruhigte Peter Dewin in hohem Grade. Es wäre auch jedem anderen ernstzunehmenden Zeitungsreporter unangenehm gewesen, sich mit solchen Unmöglichkeiten zu beschäftigen. Eine gute Kriminalgeschichte gewinnt ja dadurch, daß sie ans Ungewöhnlich-Bizarre streift, aber die Zeitungsleute machen sofort mit Schaudern halt, wenn sie von Mörderbanden und Geheimgesellschaften erfahren, denn solche Dinge haben mit einer anständigen Berichterstattung nichts zu tun. Meistens sind sie Erfindungen von sehr guten oder sehr schlechten Autoren, deren Bücher reißenden Absatz finden. Als man Peter Dewin zum ersten Mal von der gefiederten Schlange erzählte, lachte er laut auf, und als er zum zweiten Mal darauf stieß, lächelte er nur noch höhnisch und verächtlich. Solche Fabeln gehörten seiner Meinung nach zum Theater, und tatsächlich war es auch ein Theater, in dem die außergewöhnliche Geschichte der gefiederten Schlange begann. Der Beifallssturm aus dem großen Zuschauerraum tönte betäubend bis zur Decke des Orpheums, die in maurischem Stil dekoriert war, und kam wie der Widerhall des Donners von dort zu dem dichtbesetzten Parkett zurück. Ella Creed tänzelte wieder aus den Kulissen hervor. Ein dünnes, mit Similidiamanten reichverziertes Kleid umschloß ihre schlanke Gestalt. Sie entzückte ihre Bewunderer durch ein Lächeln, warf begeisterte Kußhände und verschwand dann mit einer leichten Verneigung, nur um gleich wieder hervorgerufen zu werden. Sie schaute zu dem Kapellmeister hinüber, der soeben noch einmal die Anfangstakte des Schlagers „Ich liebe, was mein Herz entzückt“ dirigierte. Laut spielte das Orchester diese banale Melodie. Ella nahm ihren Platz auf der Bühne wieder ein, die Chormädchen kamen herbeigetrippelt, um den Dakaporufen des Publikums nachzukommen. Ellas geschmeidige Gestalt bewegte sich mit unglaublicher Schnelligkeit in einem exzentrischen Tanz. Ein Sturm von Applaus und Bravorufen belohnte sie, der besonders von den billigen Plätzen des Hauses ausging. Sie trat atemlos an das kleine Pult des Regisseurs. „Das dritte Mädel in der Reihe von rechts muß entlassen werden - sie fügt sich dem Ganzen nicht ein und sucht die Aufmerksamkeit der Zuschauer von mir abzulenken. Und sagen Sie mir bitte, warum haben Sie denn eine Blondine in die erste Reihe gestellt? Ich habe Ihnen doch schon längst gesagt, zwanzigmal mindestens, daß ich nur Brünette als Hintergrund haben will!“ „Ich bitte um Entschuldigung, Miß Creed“ - der Regisseur hatte eine Frau und drei Kinder zu Hause und war infolgedessen sehr gefügig - „ich werde sehen, daß das Mädchen heute noch ihre Kündigung bekommt -“ „Ach was, werfen Sie sie einfach hinaus - wozu reden Sie noch von Kündigung“, fuhr Ella gereizt auf. „Geben Sie ihr meinetwegen noch ein Monatsgehalt, aber nur fort mit ihr!“ Ella Creed war eine wirklich schöne Erscheinung. Ihre schlanken und biegsamen Glieder wiegten sich im Gange. Als sie aber jetzt vor dem Pult stand, war sie nicht mehr so feenhaft wie auf der Bühne. Man sah ihre geraden Lippen unter der schwungvollen, roten Bemalung. Gewöhnliche Schauspielerinnen hätten gewartet, bis das Orchesterspiel zu Ende war. Aber Ella hatte eine Verabredung zum Abendessen. Auch wollte sie sich nicht in eine Reihe mit den anderen stellen, wenn der Vorhang niederging. Sie war ja auch keine gewöhnliche Schauspielerin, sondern die Besitzerin des Theaters, in dem sie auftrat, die tyrannische Herrscherin dieses kleinen Königreichs, in dem ihr Abend für Abend Huldigungen zu Füßen gelegt wurden. Sie schritt durch die Chormädchen hindurch, die ihr ehrerbietig Platz machten. Einige wenige Begünstigte grüßten sie mit einem unterwürfigen Lächeln. Sie wurden nicht wieder gegrüßt, sondern mußten mit einem Blick ihrer Herrin zufrieden sein. Ihre Garderobe war ein kleiner, kostbarer Raum mit seidenen Draperien und Tapeten und wunderbarer indirekter Beleuchtung. Zwei Zofen halfen ihr bei dem Ablegen des Schleiergewandes. Sie schlüpfte in einen seidenen Kimono, setzte sich in einen Sessel und ließ sich abschminken. Ihr Gesicht war mit einer dicken Schicht Coldcream bedeckt, als es an der Tür klopft. „Sehen Sie schnell nach, wer es ist“, rief Ella ungeduldig. „Ich kann jetzt niemand empfangen.“ Die Zofe kam aus dem kleinen Vorraum zurück. „Mr. Crewe wartet draußen“, sagte sie leise. Ella runzelte die Stirn. „Gut, lassen Sie ihn herein. Und wenn Sie mich abgeschminkt haben, können Sie beide gehen.“ Mr. Crewe trat mit einem leichten Lächeln ein. Er war ein großer, schlanker Mann mit harten, faltigen Gesichtszügen. Sein Haar war spärlich und bereits ergraut, aber man sah es nicht, da er es gefärbt hatte. Er war im Frack, drei Brillantknöpfe glänzten auf seiner weißen Hemdbrust. „Warte, bis ich fertig bin“, bat sie. „Du kannst rauchen. Geben Sie Mr. Crewe eine Zigarette - nun machen Sie aber schnell!“ wandte sie sich an die Zofen. Mr. Crewe setzte sich auf die Armlehne eines Sessels und beobachtete von dort, wie Ella abgeschminkt wurde und sich für die Straße neu puderte. Es schien ihn aber nicht im mindesten zu interessieren. Gleich darauf erhob sich Ella und verschwand in einer Nische hinter einem Seidenvorhang. Von dort hörte er, wie sie mit unliebenswürdigen, scharfen Worten ihre beiden Zofen tadelte. Sie war heute abend gerade nicht in ihrer besten Laune, aber ihre schlechte Stimmung beunruhigte ihn nicht im mindesten. Nur wenige Dinge konnten die überlegene Ruhe dieses erfolgreichen Börsenspekulanten stören. Aber trotzdem war an diesem Morgen etwas vorgefallen, das ihn aus der Fassung gebracht hatte. Ella kam wieder zum Vorschein. Sie trug ein feuerrotes Abendkleid, eine große Perlenschnur und auf der Brust eine kostbare Spange, die mit fünf Smaragden besetzt war. Ihr Schmuck hätte ein kleines Vermögen gekostet, wenn er echt gewesen wäre. „Ich habe alles besorgt, wie wir es besprachen“, sagte Mr. Crewe liebenswürdig, als sich die beiden Dienerinnen zurückgezogen hatten. „Aber du bist doch verrückt, wenn du dich mit diesem ganzen Schmuck behängst.“ „Imitationen!“ unterbrach sie ihn nachlässig. „Du denkst doch nicht etwa, daß ich mit einem Vermögen von zwanzigtausend Pfund herumlaufe, Billy! Was willst du von mir?“ Sie hatte die letzten Worte brüsk hervorgestoßen, aber er beachtete ihre Frage nicht. „Wer ist denn heute abend wieder das unschuldige Opfer?“ fragte er lächelnd. „Es ist ein junger Gentleman aus Mittelengland, sein Vater hat zehn Millionen oder so etwas. Die Leute sind so reich, daß sie nicht wissen, was sie mit ihrem Geld anfangen sollen. Mein Kavalier muß jeden Augenblick kommen - warum besuchst du mich eigentlich?“ Mr. Leicester Crewe zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr eine Karte. Sie hatte die Größe einer Damenvisitenkarte, es stand aber kein Name darauf. Nur in der Mitte war eine merkwürdige Figur zu sehen - das Bild einer gefiederten Schlange. Darunter standen die Worte:

„Damit Sie es nicht vergessen.“ „Was soll das sein? Ein Scherzrätsel? Was ist das - eine Schlange mit Federn?“ Mr. Crewe nickte. „Die erste Karte wurde mir vor einer Woche mit der Post zugesandt - und diese fand ich heute morgen auf meinem Toilettentisch.“ Sie starrte ihn an. „Was ist es denn eigentlich?“ fragte sie neugierig. „Eine Annonce?“ Leicester schüttelte den Kopf und las noch einmal laut die merkwürdigen Worte:

„Damit Sie es nicht vergessen.“ „Ich habe das dunkle Gefühl, daß es eine Warnung ist - du hast es mir doch nicht etwa zum Scherz geschickt?“ „Ich? Glaubst du denn, ich bin verrückt? Du meinst wohl, ich habe nichts Besseres zu tun, als Dummheiten zu machen? Weshalb sollte es denn eine Warnung sein?“ Crewe strich sich nachdenklich über die Stirne. „Ich weiß nicht recht. es gibt mir zu denken -“ Ella lachte laut auf. „Kommst du deshalb zu mir? Da kannst du gleich wieder gehen - denke doch daran, daß ich die Verabredung mit dem netten, jungen Mann habe.“ Ella hielt plötzlich mitten im Sprechen inne. Sie hatte ihre kleine, goldene Handtasche geöffnet, um ihr Taschentuch herauszunehmen. Er schaute auf und sah, daß sich ihre Gesichtszüge plötzlich verändert hatten. Als sie ihre Hand wieder aus der Tasche nahm, hielt sie eine längliche Karte - genau dieselbe, die er ihr soeben gezeigt hatte. „Was soll denn das bedeuten?“ Sie schaute ihn argwöhnisch an. Crewe nahm ihr die Karte aus der Hand - sie zeigte ebenfalls das Bild einer gefiederten Schlange und trug dieselbe Inschrift. „Als ich zum Theater kam, war die Karte noch nicht in der Tasche“, sagte sie ärgerlich und klingelte. Eine ihrer Zofen kam herein. „Wer hat das Ding in meine Tasche gesteckt? Nun - wird es bald - ich will wissen, wer sich diesen Spaß mit mir erlaubt hat! Eine von euch oder ihr beide fliegt noch heute hinaus!“ Die Zofe beteuerte ihre Unschuld, die andere wurde sofort herbeigerufen, konnte aber auch keine Erklärung geben. „Ich kann sie leider nicht auf die Straße setzen, weil ich sie dringend brauche“, sagte Ella, nachdem sich die Mädchen entfernt hatten. „Aber deswegen muß man doch nicht gleich den Kopf verlieren. Vermutlich ist es eine Filmreklame. Wir werden nächste Woche die Plakate mit demselben Bild an allen Anschlagsäulen Londons sehen. Aber Billy, mein Kavalier wartet." Mit einem flüchtigen Abschiedsgruß eilte sie zur Türe hinaus. Das Café de Reims, eine Tanzdiele, war die letzte Attraktion Londons. Das Lokal war bekannt wegen seiner vorzüglichen Küche, und Ella speiste dort mit ihrem Begleiter zu Abend. Der langweilige, junge Mann, der sie eingeladen hatte, war der Inhaber einer großen Wollfirma. Er hätte sie auch gerne um zwei Uhr morgens nach Hause begleitet, aber Ella hatte eine plötzliche Anwandlung von Schicklichkeitsgefühlen und lehnte seine Begleitung ab. Ein schönes, kleines Haus in St. John’s Wood, 904 Arcacia Road, war ihr Wohnsitz. Das Grundstück war von der Straße durch eine hohe Mauer getrennt, in der sich ein kleines Zugangsportal befand. Ein mit Fliesen belegter und mit Glas gedeckter Gang führte von dort zu der eigentlichen Haustür. Nachdem sie ihren Chauffeur verabschiedet hatte, trat sie durch die äußere Tür und schloß von innen zu. Ein Blick zu ihrem erleuchteten Zimmer sagte ihr, daß ihr Mädchen auf sie wartete. Sie ging zwei Schritte vorwärts. „Wenn Sie schreien, drehe ich Ihnen das Genick um!“ Zischend trafen diese Worte ihr Ohr und sie blieb starr vor Schrecken und Furcht stehen. Aus den dunklen Sträuchern, die den Zugangspfad umsäumten, tauchte eine große, breitschulterige, drohende Gestalt auf. Das Gesicht konnte sie nicht sehen, da es von einem schwarzen Taschentuch halb bedeckt war. Plötzlich bemerkte sie weiter hinten noch eine zweite Gestalt. Ihre Knie wankten. Sie öffnete die Lippen, um zu schreien, aber eine große, schwere Hand legte sich auf ihren Mund. „Wollen Sie wohl gehorchen?! Ich erwürge Sie, wenn Sie Lärm machen!“ Dann wurde es Ella Creed schwarz vor den Augen, und sie, die so oft eine Ohnmacht vorgetäuscht hatte, wurde zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich ohnmächtig. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich in sitzender Stellung gegen die Haustüre gelehnt. Die Leute waren verschwunden und ebenso ihre Perlen und ihre Smaragdspange. Es wäre ein gewöhnlicher Überfall gewesen, wenn nicht ein besonderer Umstand dazugekommen wäre. Als sie sich rührte, sah sie, daß eine Karte an einer Schnur um ihren Hals hing. Und darauf sah sie das Bild der gefiederten Schlange.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
270 Seiten
ISBN:
9783954480661
Erschienen:
Oktober 2012
Verlag:
Redimus
Übersetzer:
Ravi Ravendro
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