Buch

Die Frau mit dem Schwan - Howard Norman

Die Frau mit dem Schwan

von Howard Norman

Das war passiert: Am Morgen des 19. August 1985 in London hatten David Kozol und sein Schwiegervater William Field eine heftige Auseinandersetzung in der George Street. In einem Café wurden sie handgreiflich. Zwei Kellnerinnen warfen sie hinaus. Auf dem Bürgersteig fingen sie schon wieder an. William stolperte rücklings auf die Straße und wurde von einem Taxi erfasst. In den Akten der Londoner Polizei war von »Tätlichkeiten aus beiderseitigem Verschulden« die Rede.Das ereignete sich vor elf Monaten. In der Folge ersetzte David seinen Schwiegervater als Verwalter des Tecosky-Land-guts bei Parrsboro, Neuschottland, an der Nordküste der Fundybay. William erholte sich währenddessen im Haupthaus von seinen Verletzungen.Heute, am Abend des 13. Juli 1986, folgte David, mit Khaki-Shorts und schwarzem T-Shirt bekleidet, barfuß einer Reihe von neunzehn Schwänen mit gestutzten Flügeln von dem aus einer Quelle gespeisten Teich herauf. Er fragte sich, ob er sich jetzt »Schwanhüter« nennen konnte. Er sah ihnen gern zu, ihrem täppischen, komisch stolzierenden Gang. Dieser Sommer war eine einzige erbarmungslose Hitzewelle. »Als ich elf war«, sagte David laut, »da hat mich in einem Park in Vancouver mal ein Schwan gebissen. Vielleicht ein entfernter Verwandter von euch. Wer weiß?« Als David die Schwäne in ihren Pferch gebracht und das Tor verriegelt hatte, ging er über die Wiese, die feucht war von einem kurzen Wolkenbruch am späten Nachmittag, dem ersten Regen seit vier Wochen. In der Küche hinterließ er seine Fußabdrücke auf dem Linoleumboden mit Schachbrettmuster und ging zur Arbeitsplatte, um den Kaffee aufzuwärmen. Er setzte sich an den Küchentisch und las in dem Roman Die Schuld des Professors Bonnard von Anatole France weiter, dem Buch, das Williams Tochter Maggie gelesen hatte, als David sie kennenlernte.Damals hatte David kaum noch Romane gelesen. Dann aber kaufte er sich neun Romane von Anatole France -kleinformatige, ledergebundene Ausgaben -, als er einmal das »Antiquarian Muse«, einen Secondhand-Buchladen in Truro, besuchte, einer Stadt östlich des Landguts, fünfundvierzig Fahrminuten entfernt. Im Juni las er Die Bratküche zur Königin Pedauque und Die Insel der Pinguine und verbrachte damit oft ganze Nächte. Er wusste nicht, ob er die Romane so aufmerksam las, wie es vielleicht nötig gewesen wäre; entscheidend für ihn war, dass er durch das Lesen die Verbindung zu Maggie bewahrte, die, wie William sagte, »auf dem Papier immer noch deine Frau ist«. Sein Lesegeschmack reichte normalerweise nicht bis zu solchen philosophischen Geschichten und so hehren Gefühlsregungen wie »meine Seele in Aufruhr«. Und doch hatte er genau diese Worte auf ein Blatt Papier geschrieben und sich eingestehen müssen, dass sie seine Gefühlslage nach dem Unfall sehr gut trafen.Das Gästehaus bestand aus einer Küche, einem kleinen Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und einer Waschküche. Es hatte ein Schrägdach mit schwarzen Schindeln. Auf dem Kaminsims stand ein 1950er Grundig-Majestic-Plattenspieler. Davids Schallplatten lagen in Stapeln auf dem Fußboden. Für seine Zwecke hatten sich Bachs Solosuiten für Cello als besonders gut geeignet erwiesen, in diesem Fall gespielt von dem ungarischen Musiker Janos Starker. Es ging ihm dabei um praktische Erwägungen. David wusste, dass es ihm nicht gut ging und dass er sich jeden Tag aufs Neue in einen Zustand der Melancholie versetzen musste. Irgendwie halfen ihm die Kompositionen von Bach dabei. Mit den Worten von Anatole France über einen Bekannten ausgedrückt, boten sie ihm »ausgezeichnete Gesellschaft: meine selbst auferlegten Qualen, sein tiefer Ernst«. David trank zu viel Kaffee, während er las. Sein Herzschlag erinnerte ihn an Morsezeichen. Welche Botschaft mochten sie ausdrücken, außer dass er nicht so viel Kaffee trinken sollte? Er konnte sie nicht entziffern, er war ein Analphabet, wenn es darum ging, in seinem eigenen Herz zu lesen.Er legte Die Schuld des Professors Bonnard zur Seite, um etwas in sein Notizbuch einzutragen. Es war drei Uhr nachts. Er nannte es sein »Hätte-könnte-wäre-ich«-Notizbuch. »Wäre ich doch mit Maggie von unserer Hochzeitsreise nach Halifax heimgeflogen; wäre ich doch mit dem Taxi weitergefahren, als ich Katrine Novak vor dem Durrants Hotel in London stehen sah; hätte ich Katrine Novak nicht in mein Hotelzimmer kommen lassen, dann hätte William sie nicht mit mir gesehen; wäre ich William nur nicht auf der George Street nachgelaufen, dann hätte ihn das Taxi nicht angefahren und fast getötet ...«Das Merkwürdige an diesem Notizbuch war, dass David jedes Wort davon glaubte, wenn er es niederschrieb. Später wurde ihm dann immer bewusst, wie es wirklich war. Für eine halbe Stunde oder auch länger verschaffte es ihm Erleichterung, die Seiten mit seinen selbstbezogenen Reuebekenntnissen vollzuschreiben - doch letztlich nützte es nichts, das Geschehene wieder und wieder neu aufzurollen; den Folgen seiner Torheit konnte er dadurch nicht entkommen. Auch kleine Dinge richteten großen Schaden an. Er hatte es gründlich vermasselt, und der hohe Preis, den er dafür bezahlte, war, dass er ständig daran denken musste, dass Maggie nicht mehr da war. Es verwirrte und schmerzte ihn, nichts von seiner Frau zu erfahren - eine Situation, die er sich natürlich selbst zuzuschreiben hatte. Jeden Tag fragte er sich, an welchem Ort sie sich gerade aufhalten mochte. Wahrscheinlich in Halifax, wo sie eine Wohnung hatte, sie konnte aber auch in Europa sein, wo sie immer wieder beruflich zu tun hatte. Sie war als Publicity Director für die Öffentlichkeitsarbeit des Dalhousie Ensembles zuständig, einer Gruppe von zwölf jungen Musikern von der Dalhousie University, die klassische Musik spielte. Sein Schwiegervater William wusste immer, wo Maggie steckte, doch er verriet es ihm nicht.David markierte die Stelle im Roman, an der er sich gerade befand, mit einem Lesezeichen, das er sich aus der Bibliothek im Haupthaus ausgeliehen hatte. Er hatte Die Schuld des Professors Bonnard auf dem Küchentisch liegen. Die anderen waren neben den Brotschneidebrettern gestapelt. Das Buch meines Freundes, Die rote Lilie, Komödiantengeschichte, Die Götter dürsten, Die Perlmutterdose, Aufruhr der Engel. Er war dankbar dafür, dass Anatole France so viel geschrieben hatte. Er las im Licht einer Stehlampe, die neben dem Tisch stand. In den heißesten Nächten schlief er - wenn überhaupt - auf einer Chaiselongue auf der Veranda vor dem Wohnzimmer. Elektrische Tischventilatoren verschafften ihm einen kühlenden Luftzug.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
0 Seiten
ISBN:
9783641037420
Erschienen:
November 2009
Verlag:
btb Verlag
Übersetzer:
Norbert Jakober
4
Eigene Bewertung: Keine
Durchschnitt: 2 (1 Bewertung)

Rezension schreiben

Diesen Artikel im Shop kaufen

Das Buch befindet sich in 2 Regalen.