Buch

Cypherpunks - Jacob Appelbaum, Julian Assange, Andy Müller-Maguhn, Jérémie Zimmermann

Cypherpunks

von Jacob Appelbaum Julian Assange Andy Müller-Maguhn Jérémie Zimmermann

Was ist ein Cypherpunk?

Cypherpunks treten für den Einsatz von Kryptografie und ähnlichen Methoden als Mittel zur gesellschaftlichen und politischen Veränderung ein. Gegründet Anfang der 1990er Jahre, war die Bewegung während der "Kryptokriege" in den neunziger Jahren und im Gefolge des "Internetfrühlings" 2011 am aktivsten. Der Ausdruck cypherpunk, eine Verschmelzung der englischen Wörter cipher (chiffrieren), cyber und punk, bedeutet frei übersetzt "Verschlüsselungsrebellen des Cyberspace". Der Begriff fand 2006 Eingang in das Oxford English Dictionary.

Einleitung

AUFRUF ZUM KRYPTOKAMPF

Dieses Buch ist kein Manifest. Dafür bleibt keine Zeit. Es ist eine Warnung.

Die Welt steuert nicht gemächlich, sondern mit Siebenmeilenstiefeln auf eine neue, transnationale Dystopie zu. Diese Entwicklung wird jenseits nationaler Sicherheitskreise gar nicht richtig wahrgenommen. Sie ist durch Geheimhaltung, Komplexität und ihre schiere Dimension im Verborgenen geblieben.

Das Internet, unser großartigstes Emanzipationsmittel, hat sich in den gefährlichsten Wegbereiter des Totalitarismus verwandelt, mit dem wir es je zu tun hatten. Das Internet ist eine Bedrohung der menschlichen Zivilisation.

Diese Verwandlung hat sich still und leise vollzogen, weil diejenigen, die darüber Bescheid wissen, in der globalen Überwachungsindustrie arbeiten und keinen Anreiz haben, den Mund aufzutun. Die globale Zivilisation wird, ihrem eigenen Kurs überlassen, binnen weniger Jahre in einen postmodernen Überwachungsalptraum schlittern, aus dem es für niemanden außer den Gewieftesten ein Entrinnen geben wir. Vielleicht sind wir sogar schon dort angekommen.

Viele Autoren, die sich Gedanken gemacht haben, was das Internet für die globale Zivilisation bedeutet, irren sich. Sie liegen falsch, weil es ihnen am Blick für das Wesentliche, der sich aus der unmittelbaren Erfahrung speist, mangelt. Sie sind auf dem Holzweg, weil sie dem Feind nie begegnet sind.

Keine Beschreibung der Welt übersteht den ersten Kontakt mit dem Feind. Wir haben ihm ins Auge geblickt.

In den letzten sechs Jahren ist WikiLeaks mit nahezu jedem mächtigen Staat in Konflikt geraten. Wir kennen den neuen Überwachungsstaat aus der Innenperspektive, weil wir seinen Geheimnissen nachgespürt haben. Wir kennen ihn aus der Perspektive des Kampfes vor Ort, weil wir unsere Mitarbeiter, unsere Finanzen und unsere Quellen vor ihm schützen mussten. Wir kennen ihn aus globaler Sicht, weil wir Leute, Anlagen und Informationen in fast jedem Land haben und von überallher Nachrichten erhalten. Wir kennen ihn aus langer Erfahrung, weil wir seit Jahren gegen den Moloch ankämpfen und mit angesehen haben, wie er sich wieder und wieder vermehrt und weiter ausgebreitet hat. Er ist ein invasiver Parasit, der sich an Gesellschaften mästet, die mit dem Internet verschmelzen. Er wälzt sich über den Planeten und infiziert sämtliche Staaten und Völker, die ihm unterkommen.

Was können wir dagegen unternehmen?

Einst, an einem Ort weder hier noch dort, diskutierten wir, die Erbauer und Bürger des jungen Internets, die Zukunft unserer neuen Welt.

Uns war klar, dass die Beziehungen zwischen allen Menschen durch dieses neue Medium, unsere neue Welt, vermittelt werden würden. Auch das Wesen der Staaten, die dadurch definiert werden, wie Menschen in ihnen Informationen und Wirtschaftsgüter tauschen und Machtbeziehungen ausprägen, würde sich verändern.

Die Verschmelzung bestehender staatlicher Strukturen mit dem Internet, so war uns bewusst, würde letztlich das Wesen des Staates selbst verändern.

Wir sollten uns zuerst in Erinnerung rufen, dass Staaten Systeme sind, die durch Zwang geregelt werden. Gruppierungen innerhalb eines Staates mögen um Unterstützung buhlen, an der Oberfläche mögen demokratische Verhältnisse herrschen, aber das Fundament des Staates ist die systematische Anwendung - und Vermeidung - von Gewalt. Grundbesitz, Eigentum, Pacht, Dividenden, Steuern, gerichtlich verhängte Geldstrafen, Zensur, Urheberrechte, Markenzeichen, all dies wird aufrechterhalten und durchgesetzt mittels der Androhung staatlicher Gewalt.

Meist sind wir uns gar nicht einmal bewusst, wie nahe wir der Gewalt sind, denn wir machen alle Konzessionen, um ihr aus dem Weg zu gehen. Wie Seeleute, denen die Meeresluft um die Nase weht, denken wir selten an die dunklen Tiefen, die unsere Welt tragen.

Was wäre im neuen Raum des Internets der Mediator der Gewalt, sofern diese Frage überhaupt einen Sinn ergibt? Kann es in diesem jenseitigen Raum, diesem scheinbar platonischen Reich der Ideen und des Informationsflusses, überhaupt einen Begriff von Gewaltanwendung geben? Gibt es hier eine Macht, die historische Daten modifiziert, Telefone anzapft, Keile zwischen Menschen treibt, Komplexität in Trümmer legt und wie eine Besatzungsarmee Sperrzäune errichtet?

Das platonische Wesen des Internets mit seinen zirkulierenden Ideen und Informationen wird durch seine physischen Ursprünge besudelt. Seine Fundamente sind über Ozeanböden verlegte Glasfaserkabel, über unseren Köpfen wirbelnde Satelliten, Hallen voller Computerserver an Orten von New York bis Nairobi. Wie Archimedes dem mit nur einem Schwert bewaffneten Soldaten ausgeliefert war, der ihn dann erschlug, so kann auch die höchste Entwicklung der westlichen Zivilisation, unser platonisches Internetreich, in die Hände einer bewaffneten Miliz fallen.

Losgelöst von der alten Welt roher Atome, sehnte sich das ätherische Netz nach Unabhängigkeit. Doch Staaten und ihre Freunde machten sich daran, sich seiner zu bemächtigen - indem sie sich die Kontrolle über sein physisches Fundament verschafften. Wie eine Armee, die sich ein Ölfeld unter den Nagel reißt, wie Zöllner, die an der Grenze die Reisenden abkassieren, sollte der Staat bald lernen, seinen Zugriff auf den physischen Raum als Hebel zu benutzen, um die Herrschaft über unser platonisches Reich zu gewinnen. Er untergrub die Unabhängigkeit, von der wir geträumt hatten, und ging dann, indem er Glasfaserkabel und die Bodenstationen von Satelliten in Beschlag nahm, dazu über, den Informationsfluss des Internets - sein ureigenstes Element - einer massiven Überwachung zu unterwerfen, gerade in dem Augenblick, als es zum umfassenden Medium unserer menschlichen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu werden begann. Der Staat saugte sich wie ein Blutegel in die Venen und Arterien unserer neuen Gesellschaften, verleibte sich jede darin ausgedrückte oder kommunizierte Beziehung ein, jede gelesene Webseite, jede gesendete Nachricht, jeden gegoogleten Gedanken, speicherte dieses Wissen - Milliarden von abgefangenen Informationen jeden Tag, der Schlüssel zu unerhörter Macht - in streng geheimen Magazinen für alle Zeiten ab und machte sich daran, diesen Datenschatz - das private Gemeinschaftswerk der Menschheit - zu heben, zu erschließen und immer wieder aufs Neue auszuwerten. Mit immer raffinierteren Such- und Mustererkennungsalgorithmen vermehrte er den Schatz und maximierte das Machtungleichgewicht zwischen den Datenhäschern und den Abgeschöpften. Und dann besann sich der Staat darauf, was er in der physischen Welt gelernt hatte: Kriege vom Zaun zu brechen, Drohnen auf Ziele zu steuern, UNO-Ausschüsse und Handelsabkommen zu manipulieren und dem ihm verbundenen ausgedehnten Netzwerk von Industrieunternehmen, Insidern und Günstlingen Gefälligkeiten zuzuschustern.

Doch wir stießen auf ein Gegenmittel. Wir entdeckten unsere einzige Hoffnung gegen die totale Beherrschung, eine Vision, mit der wir - mit Mut, Einsicht und Solidarität - Widerstand leisten konnten. Es war eine eigentümliche Eigenschaft des physischen Universums, in dem wir leben, die uns dazu verhalf.

Das Universum nämlich ist ein Freund der Kryptografie. Es ist leichter, Informationen zu verschlüsseln, als sie wieder zu entschlüsseln.

Wir erkannten, dass wir uns diese seltsame Eigenschaft zunutze machen konnten, um die Gesetze einer neuen Welt zu schaffen und unser platonisches Reich von seiner stützenden Struktur aus Satelliten und Unterseekabeln mitsamt ihren Datenwächtern loszueisen, indem wir unseren Raum mit einem kryptografischen Schutzwall sicherten. So konnten wir Neuland gewinnen, das den Kontrolleuren der physischen Realität verschlossen bleiben muss, weil sie uns in diese Freizone nur folgen könnten, wenn sie dafür unendliche Ressourcen aufböten.

Auf diese Weise erklärten wir unsere Unabhängigkeit.

Die Wissenschaftler des Manhattan-Projekts entdeckten, dass die Gesetze des Universums den Bau einer Atombombe zuließen. Dieser Schluss lag durchaus nicht auf der Hand, es hätte sich auch erweisen können, dass Nuklearwaffen mit den physikalischen Gesetzen unvereinbar waren. Das Universum aber glaubt an Atombomben und Atomkraftwerke, es erteilt ihnen seinen Segen wie dem Salz, dem Meer und den Sternen.

In ähnlicher Weise besitzt unser Universum eine Eigenschaft, die es einem Einzelnen oder einer Gruppe erlaubt, Informationen verlässlich und automatisch, selbst ohne Wissen so sicher zu verschlüsseln, dass sämtliche verfügbaren Ressourcen und der gebündelte politische Wille der stärksten Supermacht der Welt nicht ausreichen würden, um sie zu dechiffrieren. Und die Chiffrierpfade der Menschen können zusammenströmen, können ganze Regionen schaffen, die den Zwangsmitteln des äußeren Staates entzogen sind - frei von massenhafter Überwachung und staatlicher Gängelung.

Auf diese Weise können sich Menschen dem Willen einer voll gerüsteten Supermacht entgegensetzen und sie besiegen. Verschlüsselung ist eine Verkörperung der physikalischen Naturgesetze, sie schert sich nicht um das Gepolter einzelner Staaten und ist selbst gegen die Schreckensvision eines transnationalen Überwachungsregimes immun.

Womöglich hätte die Welt auch anders eingerichtet sein können, doch aus irgendeinem Grund scheint die Kryptografie den heiteren Zuspruch des Universums zu finden.

Wirksame Kryptografie ist die höchste Form des gewaltlosen Widerstands. Nuklearstaaten können gegen Abermillionen Menschen schrankenlose Gewalt üben, aber selbst durch Einsatz unbegrenzter Gewalt können sie nicht den Willen Einzelner, die ihre Geheimnisse vor ihnen bewahren möchten, brechen.

Starke Kryptografie vermag schrankenloser Gewalt standzuhalten, weil kein Maß an Zwang je ein mathematisches Problem aus der Welt schaffen könnte.

Aber können wir wirklich aus dieser seltsamen Eigenschaft des Universums den Grundbaustein eines emanzipatorischen, unabhängigen Internets gewinnen, eines platonischen Reichs für die Menschheit? Und könnte bei Gesellschaften, die mit dem Internet verschmolzen sind, diese Freiheit dann wieder in die physische Realität abstrahlen und den Staat neu definieren?

Erinnern wir uns, dass Staaten Systeme sind, die regeln, wo und wie beständig Zwang ausgeübt wird.

Die Antwort auf die Frage, wie viel Zwang aus der physischen Welt in die platonische Welt des Internets einsickern kann, geben die Kryptografie und die Ideale der Cypherpunk-Bewegung.

Während Staaten mit dem Internet verschmelzen und die Zukunft unserer Zivilisation zur Zukunft des Internets wird, müssen wir die Machtverhältnisse neu definieren. Tun wir dies nicht, wird die Universalität des Internets die ganze Menschheit in ein einziges gigantisches Geflecht von Überwachung und massenhafter Kontrolle verstricken.

Wir müssen Alarm schlagen. Dieses Buch ist der Ruf eines Wächters in der Nacht.

Am 20. März 2012, als ich in Großbritannien unter Hausarrest meiner Auslieferung harrte, bin ich mit gleichgesinnten Freunden zusammengekommen, um mit ihnen gemeinsam einen Weckruf auszusenden. Wir müssen, so sind wir überzeugt, unsere Erfahrungen weitergeben, solange noch die Hoffnung besteht, dass Sie, die Leser, das aktuelle Geschehen in seiner Tragweite ermessen und dagegen aktiv werden.

Es ist an der Zeit, für unsere neue Welt, für uns selbst und unsere Lieben diesen Kampf aufzunehmen.

Wir haben die Aufgabe, so weit wie möglich unsere Selbstbestimmung zu verteidigen und dem kommenden Überwachungsregime zu trotzen - oder, wenn alles andere scheitert, seine Selbstzerstörung zu beschleunigen.

Julian Assange

London, Oktober 2012

MEHR KOMMUNIKATION,

MEHR ÜBERWACHUNG

JULIAN: Denken wir an die frühen neunziger Jahre zurück. Damals ist in Reaktion auf staatliche Kryptografieverbote die Cypherpunk-Bewegung entstanden. Viele Leute haben damals ihre Hoffnung auf die Macht des Internets gesetzt, um für einen - verglichen mit den Massenmedien - freien und unzensierten Meinungsaustausch zu sorgen. Aber die Cypherpunks haben schon früh gesehen, dass mit dem Netz tatsächlich auch die Macht verbunden ist, den gesamten stattfindenden Kommunikationsverkehr zu überwachen. Wir haben heute mehr Kommunikation, aber eben auch mehr Überwachung. Vermehrte Kommunikation heißt, dass es ein Mehr an Freiheit gibt im Verhältnis zu den Leuten, die versuchen, Ideen zu kontrollieren und Konsens zu fabrizieren; gesteigerte Überwachung bedeutet schlicht das Gegenteil.

Die Überwachung ist heute weit offenkundiger als zu den Zeiten, als es nur die Amerikaner, Briten, Russen und ein paar weitere Länder wie die Schweizer und Franzosen waren, die auf breiter Front Daten abgeschöpft haben. Heute machen das alle, und fast alle Staaten, weil die massenhafte Überwachung kommerzialisiert worden ist. Und dieser Zugriff ist jetzt allumfassend, weil die Leute all ihre politischen Ideen, ihre familiären Mitteilungen und ihre Freundschaften im Internet ausbreiten. Es gibt also nicht bloß eine stärkere Überwachung der schon vorher vorhandenen Kommunikation; die Kommunikation selbst ist so enorm gewachsen. Und das ist nicht nur ein mengenmäßiger Zuwachs, sondern die Arten der Kommunikation sind mehr geworden. All diese neuen Kommunikationsarten, die früher privat gewesen wären, werden heute auf breiter Front abgeschöpft.

Es tobt ein Kampf zwischen der Macht dieser intern gesammelten Daten, dieser Schattenstaaten der Informationen, die sich herauszubilden beginnen, mit ihrem Datenaustausch und ihren Verflechtungen untereinander und mit dem Privatsektor, und auf der anderen Seite der größer gewordenen digitalen Allmende, mit dem Internet als gemeinsamem Werkzeug, durch das die Menschheit mit sich selbst spricht.

Ich möchte darauf zu sprechen kommen, wie wir unsere Ansichten den Leuten verständlich machen. Als jemand, der sich so intensiv mit staatlicher Überwachung beschäftigt hat und weiß, wie sich die transnationale Sicherheitsindustrie im Lauf der letzten 20 Jahre entwickelt hat, habe ich das große Problem, mit der Materie so vertraut zu sein, dass ich gar nicht mehr in der Lage bin, sie aus einer allgemeinen Perspektive zu betrachten. Aber jetzt ist aus unserer Welt die Welt aller geworden, alle breiten den innersten Kern ihres Lebens im Netz aus. Wir müssen irgendwie Wege finden, unser Wissen verständlich zu vermitteln, solange wir es noch können.

ANDY: Ich schlage vor, es nicht aus der Sicht der Bürger zu betrachten, sondern aus der Perspektive der Mächtigen. Neulich bin ich auf einer merkwürdigen Konferenz in Washington gewesen, da sind mir so ein paar Leute mit einem Schildchen von der deutschen Botschaft über den Weg gelaufen. "Ach, Sie sind ja von der deutschen Botschaft", sagte ich, worauf sie antworteten: "Ähm, von der Botschaft nicht so ganz, wir kommen aus der Nähe von München." Es stellte sich heraus, dass die vom Bundesnachrichtendienst waren, und da wollte ich beim Abendbuffet von ihnen wissen, was denn nun im Zentrum der Geheimdienstarbeit steht. "Was ist denn nun der Fokus der Geheimhaltung", habe ich sie gefragt. "Tja", war die Antwort, "da geht es darum, Prozesse zu verlangsamen, damit man sie besser kontrollieren kann." Das ist der Kern dieser Art von nachrichtendienstlicher Tätigkeit, einen Prozess zu verlangsamen, indem man den Leuten die Fähigkeit verwehrt, ihn zu verstehen. Dinge für geheim zu erklären bedeutet, die Zahl der Menschen zu begrenzen, die über das nötige Wissen verfügen und somit über die Fähigkeit, Einfluss auf den Prozess zu nehmen.

Wenn man das Internet aus der Perspektive der Mächtigen betrachtet, dann waren die letzten 20 Jahre beängstigend. Sie sehen das Internet wie eine Krankheit, die ihre Fähigkeit schmälert, die Realität zu definieren, zu definieren, was abläuft, eine Fähigkeit, die dann dazu benutzt wird, um zu bestimmen, was die Leute von dem Geschehen mitbekommen und in welchem Maß sie daran beteiligt sein dürfen. Nehmt doch zum Beispiel nur mal Saudi Arabien, wo durch irgendeinen historischen Zufall die religiösen Führer dieselben Leute sind, die einen Großteil des Landes besitzen. Deren Interesse an Veränderung ist doch gleich null - es reicht von null bis minus fünf, könnte man wohl sagen. Die sehen das Internet wie ein böses Leiden und fragen ihre Berater: "Habt ihr nicht ein Mittel gegen dieses Ding da draußen? Wir müssen immun sein, wenn es unser Land befällt, wenn dieses Internet-Dingsda kommt." Und die Antwort ist massenhafte Überwachung, sie lautet: "Wir müssen es vollständig in den Griff kriegen, wir brauchen Filter, wir müssen alles wissen, was die wissen." Das ist es, was in den letzten 20 Jahren passiert ist. Es hat riesige Investitionen in Überwachung gegeben, weil sich bei den Mächtigen die Angst breitgemacht hat, dass das Internet ihre Art des Regierens beeinträchtigen könnte.

JULIAN: Und doch hat trotz dieser massenhaften Überwachung die Massenkommunikation dazu geführt, dass Millionen von Menschen in der Lage sind, rasch einen Konsens herzustellen. Wenn man sehr schnell von einer normalen Position zu einer neuen Position des Massenkonsenses gelangen kann, dann mag der Staat zwar noch gerade so in der Lage sein, die Entwicklung kommen zu sehen, aber es bleibt ihm nicht mehr genug Zeit, um eine wirkungsvolle Reaktion zuwege zu bringen.

So hat es 2008 in Kairo einen über Facebook organisierten Protest gegeben. Die Mubarak-Regierung war davon schon überrascht, aber als Folge hat sie dann mit Hilfe von Facebook Jagd auf die Leute gemacht. 2011 stand in einem Handbuch, eines der wichtigsten Dokumente in der ägyptischen Revolution, auf der ersten Seite und noch einmal auf der letzten Seite: "Benutzt zur Verbreitung dieses Handbuchs weder Twitter noch Facebook." Viele Ägypter haben es trotzdem über Twitter und Facebook weitergegeben, aber das haben sie nur deshalb überlebt, weil die Revolution siegreich war. Wenn sie erfolglos verlaufen wäre, dann wären diese Menschen in eine sehr, sehr schlimme Lage gekommen. Wir sollten nicht vergessen, dass Präsident Mubarak das Internet in Ägypten zu einem ziemlich frühen Zeitpunkt abgeschaltet hat. Tatsächlich ist es fraglich, ob der Ausfall des Internets der Revolution eher genützt oder geschadet hat. Einige sind der Meinung, dass sie dadurch erleichtert worden ist, weil die Menschen so ja auf die Straße gehen mussten, um Neuigkeiten über das Geschehen zu erfahren, und wenn man erst mal auf der Straße ist, kann sich leicht mehr entwickeln. Und die Leute waren ja unmittelbar betroffen, weil ihre Handys und ihr Internet nicht mehr funktionierten.

Wenn man also erfolgreich sein will, braucht man eine kritische Masse, es muss schnell gehen und man muss gewinnen, denn falls man unterliegen sollte, wird eben jene Infrastruktur, die so schnell die Bildung eines Konsenses erlaubt hatte, dazu benutzt werden, um sämtliche Initiatoren aufzuspüren und auszuschalten.

So viel zu Ägypten, das zwar ein Verbündeter der Vereinigten Staaten ist, das ist richtig, aber es gehört nicht zur englischsprachigen Nachrichtendienstallianz aus USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada.

Stellen wir uns doch nur mal vor, die ägyptische Revolution wäre stattdessen in den Vereinigten Staaten losgegangen: Was wäre wohl mit Facebook und Twitter passiert? Sie wären vom Staat übernommen worden, und wäre die Revolution gescheitert, hätten CIA und FBI, wie es jetzt ja auch geschieht, die Register dieser Firmen nach den Daten der wichtigsten Beteiligten durchforstet.

JÉRÉMIE: Es ist schwer, Überwachung von Kontrolle zu trennen. Wir müssen beides ansprechen. Das ist eher das, wo mein Interesse liegt: die Kontrolle des Internets, ob durch Regierungen oder Unternehmen.

JACOB: Ich glaube, es ist ziemlich klar, dass Zensur im Allgemeinen ein Nebenprodukt von Überwachung ist, ob es sich nun um Selbstzensur oder tatsächliche technische Zensur handelt, und ich glaube, man sollte das den Menschen am besten auf eine nicht-technische Art vermitteln. Wenn wir zum Beispiel Straßen so bauen würden wie das Internet, dann wäre jede von ihnen mit Überwachungskameras und Mikrofonen ausgestattet, auf die niemand außer der Polizei - oder jemand, der sich erfolgreich als Polizei ausgibt - Zugriff hätte.

JULIAN: Sie sind schon auf dem besten Weg dahin, Jake - in Großbritannien.

JACOB: Wenn du eine Straße baust, gehört es nicht zu den Anforderungen, jeden Zentimeter mit einem perfekten Überwachungssystem kontrollieren zu können, auf das nur eine geheime Personengruppe Zugriff hat. Wenn man gewöhnlichen Menschen erklärt, dass dies aber die Art und Weise ist, wie wir Straßen im Internet bauen, und dann zu erwarten, dass diese Straßen benutzt werden - damit könnten normale Menschen etwas anfangen, wenn ihnen klar wird, dass die ursprünglichen Straßenbauer nicht unbedingt diejenigen sind, die das Heft in der Hand halten.

ANDY: Aber manche bauen nicht mal Straßen, sondern legen da draußen einen Garten an und laden alle ein, sich auszuziehen. Das ist es, was Facebook wirklich macht. Das Geschäftsmodell vermittelt den Leuten doch, wie angenehm es ist, ihre Daten preiszugeben.

JACOB: Genau. Bei der Stasi gab es für die Mitarbeit eine Belohnung, und auch bei Facebook kriegt man was fürs Mitmachen. Nur dass man bei Facebook statt direkter Bezahlung mit sozialen Pluspunkten belohnt wird - um sich vom Nachbarn flachlegen zu lassen. Und es ist wichtig, es einfach unter dem menschlichen Gesichtspunkt zu sehen, denn es dreht sich hier nicht um Technologie, es dreht sich um Kontrolle durch Überwachung. Es ist in mancherlei Hinsicht ein perfektes Panopticon.

JULIAN: Ich interessiere mich sehr für Technikphilosophie. Technik bedeutet nicht einfach ein technisches Ding, sondern damit kann auch, sagen wir, der Mehrheitskonsens in einem Gremium oder die Struktur eines Parlaments gemeint sein. In diesem Sinn ist Technik systematisierte Interaktion. Feudalsysteme haben sich zum Beispiel, wie es scheint, aus der Mühlentechnik entwickelt. Sobald man Mühlen zentralisiert hatte, was große Investitionen erforderte, war es ganz natürlich, dass daraus als Folge Feudalbeziehungen entstehen würden, weil man sie leicht einer physischen Kontrolle unterwerfen konnte. Einige Techniken lassen sich demokratisieren; sie lassen sich an alle Menschen verteilen. Aber bei der Mehrzahl handelt es sich - aufgrund ihrer Komplexität - um Techniken, die aus stark verflochtenen Organisationen heraus entstehen, wie zum Beispiel die Produkte des Chipherstellers Intel. Vielleicht wohnt der Technik ja eine Tendenz inne, sich in Phasen zu entwickeln, von der Entdeckung über die Zentralisierung zur Demokratisierung, wenn das Wissen über das Wie von einer Generation auf die nächste übergeht. Aber ich glaube, dass die Technik eher der allgemeinen Tendenz folgt, Kontrolle in der Hand derjenigen Menschen zu zentralisieren, die über ihre physischen Ressourcen gebieten.

So ein Halbleiterproduzent ist wahrscheinlich das beste Beispiel dafür. Man benötigt hier eine so strenge Ordnung, dass selbst die Luft rein sein muss. Man braucht eine Fabrik, in der Tausende von Leuten arbeiten, alle mit Haarnetzen, um jede kleine Hautschuppe, jedes Härchen aus dem Herstellungsprozess herauszuhalten, bei dem es sich um ein mehrstufiges, überaus kompliziertes Verfahren handelt. Und es gibt wortwörtlich Millionen von Personenstunden Forschungswissen, die sich das Halbleiterunternehmen erworben hat. Wenn die Produkte weite Verbreitung finden, und das tun sie ja, und wenn das Internet auf ihnen aufbaut, dann ist die Halbleiterherstellung der Internetbefreiung sozusagen einkodiert. Und untrennbar mit der Halbleiterherstellung verbunden ist wiederum die externe Macht insbesondere des Staates, der ja die physische Kontrolle über den Produzenten besitzt, diesem enorme Konzessionen abzunötigen.

Der High-Tech-Kommunikationsrevolution - und der Freiheit, die wir aus ihr gewonnen haben - liegt also die ganze neoliberale, transnationale, globalisierte moderne Marktwirtschaft zugrunde.

Tatsächlich ist sie deren Gipfelpunkt. Sie ist in technologischer Hinsicht die höchste Errungenschaft, zu der die moderne, globalisierte, neoliberale Wirtschaft fähig ist. Das Internet gründet auf extrem komplexen Handelsbeziehungen zwischen Glasfaserproduzenten, Halbleiterherstellern, Bergbauunternehmen, die all die Rohstoffe ausbuddeln, sowie den finanziellen Schmiermitteln, die den Handel ermöglichen, aus Gerichtshöfen, die Verträge und Eigentumsrechte durchsetzen und so weiter. Es ist also wirklich die Spitze der Pyramide des ganzen neoliberalen Systems.

ANDY: Eine Anmerkung zum Thema Technik. Nachdem Johannes Gutenberg die Druckerpresse erfunden hatte, ist sie in Teilen Deutschlands immer wieder verboten worden. Auf diese Weise hat sie sich im ganzen Land verbreitet, denn wenn sie in einem Herrschaftsgebiet verboten worden war, zogen die Drucker in ein anderes. Ich habe nicht alles bis ins Einzelne nachgelesen, aber ich weiß, dass sie, wann immer es Ärger mit der katholischen Kirche wegen Verletzung des Buchdruckmonopols und Rechtsstreitigkeiten gab, an einen anderen Ort gezogen sind, an dem es nicht verboten war. Das war einer der Gründe für die Ausbreitung des Buchdrucks.

Beim Internet ist es wohl ein bisschen anders gewesen, weil man einerseits Maschinen hat, die als Produktionsanlage benutzt werden können, was selbst der Commodore 64 in gewisser Weise war, auch wenn die meisten Leute ihn für andere Zwecke genutzt haben?…

JULIAN: Auf jeder kleinen Maschine, die du hattest, konntest du also deine eigene Software laufen lassen.

ANDY: Ja. Und du konntest sie auch nutzen, um Ideen zu verbreiten. Aber andererseits, philosophisch gesagt, "interpretiert das Netz Zensur als Schaden und leitet den Verkehr um ihn herum". So hat es John Gilmore Anfang der neunziger Jahre ausgedrückt, als das Internet erstmals eine globale Reichweite erlangte. Das ist, wie wir heute wissen, eine Technikdeutung gewesen, die mit einer optimistischen Sicht ihrer Wirkung verbunden war, eine Art Wunschdenken und auch eine sich selbst bewahrheitende Prophezeiung.

JULIAN: Aber beim Usenet, das sozusagen ein E-Mail-System nach dem Viele-zu-vielen-Prinzip ist und vor 30 Jahren angefangen hat, hat es gestimmt. Einfach erklärt kann man sich Usenet so vorstellen, dass es keinen Unterschied zwischen Menschen und Servern gibt und jeder Teilnehmer seinen eigenen Usenet-Server betreibt. Du schreibst etwas und gibst es an ein oder zwei Leute weiter. Die überprüften (automatisch), ob sie es bereits haben. Falls nicht, nehmen sie es und geben es an alle weiter, mit denen sie verbunden sind. Und so weiter und so fort. Die Nachricht fließt also an alle weiter, alle erhalten schließlich eine Kopie. Wenn irgendjemand der Teilnehmer Zensur betreibt, wird er oder sie einfach ignoriert, es macht keinen Unterschied. Die Botschaft verbreitet sich trotzdem durch all die Leute, die keine Zensoren sind. Gilmore hat vom Usenet gesprochen, er hat nicht das Internet gemeint, auch keine Webseiten.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
200 Seiten
ISBN:
9783593420370
Erschienen:
März 2013
Verlag:
Campus Verlag GmbH
Übersetzer:
Andreas Simon dos Santos
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