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Gedankenspiele: Figuren und Setting - Eine Frage der Sympathie?

In diesem Artikel dreht sich alles um die Figuren und ums Setting und die Frage, wie sehr man sich damit identifizieren bzw. ob man beides mögen muss, um das gesamte Buch lieben zu können.

 

 

Diese Frage beschäftigt mich schon länger. Seit ich mir immer wieder Rezensionen durchgelesen habe, in denen häufig die Rede davon ist, man könne sich so gar nicht mit einem Charakter oder dem Handlungsort anfreunden und würde deswegen auch schlechter bewerten, stellt sie sich mir sehr oft. Ist Sympathie wirklich so wichtig, um eine Geschichte zu mögen oder nicht?

 

Ich selbst lese gerade ein Buch, bei dem diese Frage schwer zu beantworten ist. Es handelt sich um No way back von John Lucas und thematisiert das Bandenleben in der Londoner Vorstadt. Nicht gerade einfache Kost und bestimmt auch keine Friede-Freude-Eierkuchen-Wohlfühlatmosphäre. Trotzdem werde ich es garantiert zuende lesen. Und das aus gutem Grund.

 

Ihr kennt doch sicher alle, diese wunderbaren Bücher, bei denen alles zu stimmen scheint: Perfekte Charaktere, perfekter Hintergrund, perfekte Atmosphäre. Es ist nicht so, dass es überhaupt keine Schwierigkeiten gäbe, aber sie werden gelöst und zwar so, dass es entweder politisch korrekt oder eben schnell und möglichst schmerzlos geschieht. Ein Happy-End ist quasi vorprogrammiert und auch durchaus erwünscht. Die Figuren sind so gestaltet, dass fast jeder sie lieben muss, sie sympathisch findet oder sich zumindest vorstellen kann, in ihrer Haut zu stecken. Sie haben ihre Schwächen und Fehler, ja, aber diese sind toll ausbalanciert mit ihren Stärken und zwar so, dass sie weder zu abgehoben noch zu normal wirken. Gerade ein bisschen über dem Durchschnitt, dass man sich gerne in sie hineinträumt, doch bloß nicht neidisch auf sie wird.

 

Versteht mich nicht falsch, ich lese solche Bücher häufiger, denn manchmal brauche ich einfach meine Dosis Mainstream. Eine Welt, in der alles machbar, lösbar und unkompliziert ist, wenn man sich nur etwas anstrengt und die richtigen Entscheidungen trifft. Sagen wir mal so, es gibt einem schon Hoffnung darauf, dass das Leben doch nicht komplett gegen einen ist und vor allem auch seine guten und schönen Seiten hat. Sowas ist zwischendrin mal nötig, wenn man eigentlich ganz optimistisch in die Zukunft blickt, aber sich dann der eine oder andere Zweifel einschleicht. In dem Sinne haben diese Geschichten durchaus eine Berechtigung in meinen Augen und deswegen verurteile ich niemanden, der überwiegend solche Romane verschlingt.
Allerdings sieht die Realität meist ganz anders aus.

 

Und das ist es vor allem, was mich oft mal mehr, mal weniger zu anderen Themen greifen lässt. Es ist eben einfach manchmal frustrierend, sobald sich der Spalt zwischen Fiktion und Wirklichkeit so krass auftut, dass man nicht leugnen kann, wie unwahrscheinlich viele Storys sind. Und wie beschönigend so einiges dargestellt wird. Man kommt sich ab und zu vor, als hätte man nur Pech in der Liebe, grundsätzlich die falschen Freunde oder einfach den langweiligsten und eintönigsten Job auf der Welt.
Damit will ich nicht sagen, dass ich mich bei der Lektüre endlich auch mal besser als die Protagonisten fühlen will. Dazu leide ich leider viel zu viel mit ihnen mit. Trotzdem ist es irgendwie tröstlich zu wissen, dass eine Situation im Leben bestimmter Buchhelden nicht immer gut ausgeht und es sogar offen bleibt, ob es jemals zu einem glücklichen Ende kommen wird.
Außerdem sind die Charaktere meistens alles andere als langweilig und klischeehaft.

 

Und da sind sie dann, die schwierigen, komplizierten oder sogar richtig unsympathischen Menschen, die uns durch ihre Erlebnisse führen und deren Handlungen nicht immer leicht zu durchschauen sind. Die einen fassungslos machen mit dem, was sie tun und sagen, mit denen man sich so schwer identifizieren kann und die man vielleicht nicht nur nicht leiden kann, sondern sogar auch noch regelrecht verabscheut.
Es gibt Leser, die können sich nicht mit solchen Figuren abfinden und legen einen Roman womöglich genau aus diesem Grund schnell zur Seite, ohne ihn zuende zu lesen. Ich respektiere so etwas durchaus, da es richtig schlimm ist, sich durch ein Buch zu quälen, mit dem man so überhaupt nichts anfangen kann. Für mich selbst ist es dagegen eine Herausforderung und eine tolle Möglichkeit, andere Perspektiven kennenzulernen, die ich vielleicht so nie vermutet hätte.
Ich weiß, dass es gerade dann besonders schwer ist, sich in jemanden hineinzuversetzen, dessen Charakter einen an Personen erinnert, die einen verletzt haben oder es immer noch tun. Will man jemanden nicht mögen oder ihn sogar hassen, will man auch seine Beweggründe nicht erfahren, aus Angst, man könnte ihn dann vermutlich sogar verstehen. Doch was ist, wenn man selbst in die gleiche Situation kommt wie derjenige, den man nicht mag? Wenn man irgendwann genau dieselben Erfahrungen macht? Woher will man jetzt wissen, wie man dann reagieren wird?

 

Dasselbe gilt in meinen Augen auch für das Setting, mit dem ich nicht nur den Handlungsschauplatz meine, sondern auch im weitesten Sinne die äußeren Einflüsse auf die Protagonisten.
Wie bereits angesprochen, lese ich gerade einen Jugendroman, der im Gangmilieu spielt, komplett mit Drogen, Bandenkämpfen, Morden usw. Ich habe schon mitbekommen, dass einige dieses Thema sehr kritisch sehen, vor allem in Hinblick darauf, wie es den Jugendlichen vermittelt wird. Der Autor solle immer die Gefahren politisch korrekt darstellen, weder zu krass noch zu lasch und dabei bloß nichts verherrlichen oder beschönigen.
Aber wo endet die realistische Darstellung und wo beginnt die sogenannte Verherrlichung? Muss der erhobene Zeigefinger stets präsent sein, um dem Vorwurf der Beschönigung zu entgehen? Sollte der Held einer Geschichte wirklich am Ende dastehen und direkt oder indirekt den Eindruck vermitteln, er hätte etwas ganz Wichtiges gelernt, nämlich dass seine Taten falsch waren? Oder zumindest sterben und auf diese Art und Weise aufzeigen, welches schlimme Ende man nehmen kann, sollte man denselben Weg einschlagen?

 

Meiner Meinung nach muss das nicht sein. Denn die traurige Wahrheit ist: In der Realität erkennen wir unsere Fehler meist zu spät oder gar nicht, auch wenn es in unserem Umfeld jemanden geben sollte, der uns eindringlich warnt. Gibt es niemanden oder nur solche, bei denen die Betreffenden das Gefühl haben, nicht akzeptiert zu werden, kann das drastische Folgen haben. Sollte man diese Folgen zeigen dürfen, ohne sie zu bewerten? Ich denke schon.
Vielleicht befindet sich ja jemand genau in dieser Situation und liest das Buch, bevor es für ihn zu spät ist. Und vielleicht fühlt er sich gerade deswegen von dem Schriftsteller so verstanden, eben weil der ihn oder eben die Figur, mit der sich der Leser identifiziert, nicht kritisiert. Und vielleicht überlegt er es sich deshalb ganz anders und schlägt einen ganz anderen Weg ein.

 

Klingt womöglich etwas hochtrabend und illusorisch, aber mir sind Menschen lieber, die eine eigene Meinung vertreten und nicht diejenige eines anderen nachplappern.
Oder was meint ihr?

 

Kommentare

Nafreyu kommentierte am 09. Juni 2014 um 00:22

Ich denke, ich sehe das ähnlich wie du. Die Charaktere müssen nicht immer perfekt sein, manchmal macht sie gerade das Unsypathische aus. Und nicht jedes Buch muss gleichzeitig aufzeigen, was richtig und was falsch ist. Das kann eher schon mal nervig sein, wenn man die ganze Zeit das Gefühl hat, es wurde von einem Moralapostel geschrieben! Klar, können perfekte Welten mit perfekten Menschen mit perfekten Handlungen auch spaßig und interessant sein, aber mir sind andere, vielleicht dahingehend realistischere Stories lieber. Auch mal ohne Happy End, mit falschen Entscheidungen und Menschen mit Fehlern. Wobei es bei mir eine Grenze gibt: Wenn mir jemand so unglaublich unsympathisch ist als Charakter, kann es passieren, dass ich das Buch weglege. Also wenn er nur unsympathisch dargestellt wird und das sein vorherrschender Charakterzug ist. Da fällt mir gerade kein Buchbeispiel ein, aber auf Anhieb eine TV-Serie: The Mentalist. Super spannend, gefällt mir an sich echt gut, und natürlich soll der Typ unsympathisch sein. Aber er ist es so übertrieben, dass es mich schon nach wenigen Folgen nur noch genervt hat und ich nicht mehr weiterschauen wollte. Damit für mich klarer Fall von übers Ziel hinausschießen.

Der Ort ist mir für die Bewertung relativ egal, ich glaube, da gabs noch nie ein Buch, was ich wegen dem Handlungsort wegglegt hätte. Man sollte nur in einer Schiene bleiben - ist es eine historisch realistische Geschichte? Dann bitte auch einigermaßen korrekt bleiben mit nicht zu krassen historischen Fehlern, das kann sonst einfach den Lesefluss stören. Soll es Fantasy sein? Dann gerne so verrückt wie möglich.

Zieherweide kommentierte am 09. Juni 2014 um 13:34

Also ich denke da tatsächlich ähnlich wie du. Oftmals lese ich schon diese Happy End Geschichten und früher war es immer so, dass es besser war, wenn das Buch ein schönes Ende hat, aber mittlerweile habe ich gemerkt, dass genau die anderen Geschichten in meinem Kopf bleiben. Ich weiß nicht, ob es jetzt ein sinnvolles Beispiel ist, aber ich nenne es mal trotzdem. Von Jodie Picoult "Beim Leben meiner Schwester". Da gibt es ja das Buch und den Film. Als ich damals das Buch gelesen habe, wollte ich das Ende nicht wahr haben. "Was ist das denn für ein bescheuerter Schluss? Warum das auf einmal? Das geht doch nicht!" Sowas ging mir damals gleich durch den Kopf. Ein gutes Jahr später habe ich erst den Film gesehen und ich war geschockt. Nicht nur, weil der Schluss vollkommen anders ist, sondern weil ich das Ende vom Buch besser fand. Beide Enden haben etwas an sich, was realistisch ist, beides halt keine typischen Happy End Szenen. Und das ist jetzt schon ein paar Jahre her. Ich habe soviele andere Bücher gelesen, mit fröhlichem Ende, aber davon habe ich viel weniger im Kopf behalten und das hat doch was zu bedeuten, oder nicht? Vielleicht weil man nicht so oft, zu was völlig anderem greift? Ist es dann was besonderes? Ich denke nicht nur. Diese Bücher haben etwas, dass dann doch länger präsent ist, worüber man sich mehr den Kopf zerbricht, selbst wenn man das Buch schon beendet hat und das ist finde ich gut.

Dein Artikel ist übrigens toll. Da denkt man gleich wieder ein bisschen drüber nach, was und wie man etwas liest. ^^

helmut kommentierte am 10. Juni 2014 um 12:21

Hallo

Das Problem kenne ich auch. Das Gute in Geschichten ist zwar schön, aber es wirkt manchmal auch etwas geküstelt. Die heile Welt gibt es auch in Geschichten nicht, hält sich der Schreiber an das wirkliche Leben.

Ich finde das "Böse" gibt doch erst die Würze in eine Geschichte und einen Roman.

LG

helmut

 

 

fio kommentierte am 14. Juni 2014 um 21:47

Mir geht es ähnlich. Die wirklich guten Geschichten leben unter anderem davon, dass in ihnen eben nicht alles glatt geht und nicht jeder ausnahmslos gut (oder böse) ist. Unabhängig vom Genre sind mir außerdem authentische Charaktere lieber als sympathische Charaktere (wobei das eine das andere ja nicht ausschließen muss : )

LG,
fio

PS: Ein wirklich toller Artikel!