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Wörterbuch der bibliophilen Sorgen - (c) ozgurdonmaz - istockphoto

Lesegewohnheiten

Wörterbuch der bibliophilen Sorgen

Im Leben eines Bücherwurms gibt es Gefühle, für es keine passenden Worte gibt. Wie nennen wir die Anspannung, in der wir uns befinden, wenn wir auf den Folgeband unserer Lieblingsreihe warten? Oder die Leere nach einem guten Buch? Wir haben ein Wörterbuch der bibliophilen Sorgen zusammengestellt.

1999 rief der Duden gemeinsam mit Litpon zu einem großen Wettbewerb auf: Weil die deutsche Sprache bislang keinen passenden Begriff kannte, sollte ein Wort gefunden werden, das das Gegenteil von durstig bedeutet. Eingereicht wurden 45.000 Vorschläge, aus denen der Begriff "sitt" ausgewählt wurde. Doch trotz der medialen Aufmerksamkeit, die dem Wettbewerb zuteil wurde, konnte sich das Kunstwort im Sprachgebrauch nicht durchsetzen.

Der Versuch zeigt aber: Auch mit der deutschen Sprache, die immerhin 5,3 Millionen Wörter aufweist, lässt sich nicht jeder Zustand präzise benennen. So manche Gefühlregung muss umschrieben und erklärt werden. Ein Problem, das auch anderen Ländern nicht fremd ist. So hat der Amerikaner John Koenig vor einiger Zeit die (absolut empfehlenswerte) Seite "The Dictionary of Obscure Sorrors" ins Leben gerufen, auf der er Wortneuschöpfungen inklusive Definition für Gefühle und Zustände präsentiert, für die es noch keine adäquaten Begriffe gibt. Für alle, die dem Englischen nicht mächtig sind: Mein Bruder hat diese - mit Genehmigung des Autors - ins Deutsche übersetzt und auf seinem Blog veröffentlicht.

Nicht den passenden Ausdruck für ein Gefühl zu finden, kennen vor allem auch Buchliebhaber. Wie zum Beispiel nennen wir das Loch, in das wir fallen, wenn wir ein gutes Buch zu Ende gelesen haben? Oder die Nervosität, die uns begleitet, während wir auf den Folgeband unserer Lieblingsserie warten? Wir haben einen Versuch gestartet und ein kurzes Wörterbuch für bibliophile Sorgen entworfen.

Sollen wir es noch erweitern? Dann her mit euren Vorschlägen!

Postlegere-Tristesse

Das Gefühl, das nach dem Beenden eines guten Buches eintritt. Eine belastende Mischung aus einem unbeschreiblichen Hochgefühl, hervorgerufen durch eine nahezu euphorische Begeisterung für das zuvor Gelesene, und einer tiefen Traurigkeit, weil man sich von liebgewonnenen Menschen trennen und aus der fast heimisch gewordenen Atmosphäre der Fiktion heraustreten muss, um zurück in die Realität zu finden, die mit einem Mal so fremd und trist erscheint.

Arithmetische Elegie

Die bestürzende Gewissheit, die eintritt, wenn man ausrechnet, wie viel Zeit es in Anspruch nehmen würde, alle Bücher auf der Wunschliste tatsächlich zu lesen, und man feststellen muss, dass die Lebenszeit schon jetzt nicht mehr ausreicht. Ein belastendes Gefühl, das häufig beim Betrachten von Bücherregalen eintritt und mit einem beklemmenden Druck auf der Brust vergleichbar ist.

Nervöse Expectritis

Die nervöse Anspannung, während man auf die Veröffentlichung eines Folgebands wartet. Eine Mischung aus Vorfreude auf die neue Lektüre, ungeduldiger Erregtheit und einem Hauch Ärger über die Fremdbestimmtheit, der man ausgeliefert ist. Man hat keinen Einfluss auf den Erscheinungstermin, sondern ist ganz und gar von der Disziplin, Kreativität und Vitalität des Autors abhängig. Und immer ist ein Hauch Sorge dabei, eine leise Angst, dass es durch unvorhersehbare Umstände nie zu einem neuen Band kommen könnte.

Legere interruptus

Der kurze Moment der Überforderung, wenn man gerade noch in aller Ruhe gelesen hat und gänzlich in der Geschichte versunken ist, dann aber ohne Vorankündigung unterbrochen und gewaltsam aus der Fiktion herausgerissen wird. Das Gefühl, das schier Unmögliche schaffen zu müssen: sich ohne Vorbereitung wieder in der Realität zurechtzufinden, sich auf die störende Quelle einzulassen, präsent zu sein.   

Platonische Befürchtung

Eine leichte Panik, die einen beschleicht, wenn man ein überragendes Buch zu Ende gelesen hat. Während des Lesens sind die Erwartungen unmerklich gestiegen. Ein Gefühl, als hätte man endlich Platons unterirdische Höhle verlassen und könnte nun die wahre Literatur sehen, nicht mehr nur deren schemenhaften Schatten. Man sorgt sich darum, dass sich niemals wieder eine Lektüre mit diesem einen Buch messen kann. Es ist, als hätte es schon jetzt alles, was man jemals gelesen hat oder noch lesen wird, in den Schatten gestellt.

Finale Rührseligkeit

Die feierliche Rührung, von der man überrumpelt wird, wenn man den letzten Band einer Reihe in den Händen hält. Als müsse man den Akt des Buchöffnens gebührend zelebrieren, die Beschaffenheit des Papiers ertasten, jedes einzelne Wort laut aussprechen, es empfinden, sich einer frühzeitigen Nostalgie hingeben, die diesem Anlass angemessen ist. Und gleichzeitig spürt man eine tiefe Traurigkeit, weil man weiß, dass die Geschichte mit diesem Buch ihr Ende findet, dass man sich verabschieden muss von den Helden, die einen womöglich über Jahre treu begleitet haben. 

Circulus Vitiosus Bibliophilus

Die Sehnsucht nach einem Buch, wenn man unerwartet aufgehalten wird, etwa durch eine Zugverspätung, einem Stau oder einer langen Wartezeit beim Arzt, und keinen Lesestoff dabei hat. Einerseits ist da dieses leichte Entsetzen darüber, dass man tatsächlich vergessen hat, sich eine Lektüre einzustecken, ein kurzzeitiges Fremdheitsgefühl, weil dieses Verhalten so gar nicht zu einem passen will, andererseits spürt man ein unstillbares Verlangen nach einer Lektüre. So gerne würde man jetzt ein Buch zur Hand haben, die Zeit mit wohltuenden Zeilen genießen, endlich den Roman zu Ende zu lesen, der zuhause auf dem Nachtschrank liegt. Doch in Wahrheit, so muss man einsehen, ist man der puren Langeweile ausgeliefert und hat keinen Einfluss auf die Wartezeit.  Und während man sich seinen Zustand bewusst macht, verstärkt sich die Sehnsucht zu lesen - ein Teufelskreis (lat. Circulus Vitiosus).

Kommentare

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Fantasy kommentierte am 17. Februar 2016 um 15:43

Der Artikel ist wirklich klasse :D Jetzt muss man sich nur noch die Namen dafür merken wenn einem jemanden fragt was man hat.^^

Lrvtcb kommentierte am 18. Februar 2016 um 15:41

Platonische Befürchtung ist meines Erachtens das schlimmste. Danach findet man erst einmal kein Buch, das man noch lesen möchte, da keines gut genug ist. Kurzweilig verliert man die Lust zu lesen, bis man ein neues Buch findet, das einen einigermaßen fesselt.

Sommerzauber02 kommentierte am 19. Februar 2016 um 08:05

Tolle Beschreibungen und Begriffe von und über Gefühle, wenn es ums Lesen oder um Bücher geht.

Susi kommentierte am 19. Februar 2016 um 17:39

Kenne ich alles. Sehr gut beschrieben. 

Lui1006 kommentierte am 19. Februar 2016 um 19:50

Ich finde diesen Artikel mega cool und es spiegelt alle "Bücherwurm-Krankheiten" wieder.

Legere interruptus ist für mich das schlimmste Gefühl. Immer, wenn ich lese und gerade vertieft bin, werde ich von irgendwas oder irgendwen aus dieser Welt gerissen.

Die ersten Sekunden bin ich etwas verwirrt und sobald der "Störfaktor" vorrüber ist kann ich mich wieder voll und ganz auf mein Buch konzentrieren.

Eulalia kommentierte am 19. Februar 2016 um 21:23

Eines vermisse ich noch: Gerade überfiel mich beim Anblick meines übervollen Bücherregals große Wehmut mit einem Hauch von Panik, weil ich weiß, dass noch neue Bücher auf einen Platz warten und ich mich leider von einigen trennen muss. Aber ich will mich doch von keinem trennen...

Wie nennt man das?

Maryann Flamel kommentierte am 20. Februar 2016 um 11:41

Die "Postlegere Tristesse" ist eindeutig mein Lieblingsbegriff :) Aber die anderen sind auch richtig gut ^^ Direkt als "neues Vokabular" gespeichert :)

parole kommentierte am 21. Februar 2016 um 14:13

Einfach Klasse! :-)

Irgendwie sind mir alle bibliophilen Sorgen bekannt, aber sehr oft "erkranke" ich an Postlegere-Tristesse -  wie bestimmt einige.

Justsmile kommentierte am 21. Februar 2016 um 21:05

Diese Krankheiten kennt bestimmt jeder, der gerne Bücher liest. Aber wirklich eine tolle Auswahl! :D

Ich selbst bin auch sehr anfällig für "emptio cupiditas". Eine Krankheit, unter der vor allem mein Geldbeutel leidet. :)

Immer wenn ich "nur mal eben" in den Buchladen gehe, um EIN ausgewähltes Buch zu kaufen (zB als Geschenk)  und dann in einen totalen Kaufrausch verfalle.....

Myrna kommentierte am 23. Februar 2016 um 17:15

Toller Artikel, wirklich cool!

Ich selbst habe immer, wenn ich eine Zeit lang nicht zum Lesen komme, "Entzugserscheinungen".

Von den oben genannten sind es auch einige: Vor allem "Legere interruptus", aber auch "Postlegere Tristesse".

Schlimm ist es, wenn ich nach dem Beenden eines Buches mich eine Weile nicht entscheiden kann, welches ich als nächstes lesen will - denn jedes Buch hat bei mir seine spezielle Zeit. in der es "dran ist" oder nicht, weil erst ein anderes gelesen werden will...

kommentierte am 24. Februar 2016 um 15:40

Erschreckend ... bei mir kommt noch dazu, dass ich bei jeder von mir geliebten Reihe (Harry Potter, Eragon, Panem, Twilight, ...) bei Neuerscheinen eines Bandes alle bereits vorliegenden Bücher noch Mal (!) lesen musste. Da kommt schon so einiges an Seiten und Lesezeit zusammen. Andererseits ist es aber auch immer wieder schön, alte Freunde zu treffen.

Eulalia kommentierte am 24. Februar 2016 um 21:16

Du auch?

Gut zu wissen, manche erklären das für verrückt....

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