Dilemma
Das Leid von Agenten und Verlegern
Wer behauptet, Literatur zu lieben, sie aber wie ein Buffet behandelt, an dem man sich wahllos bedient, ohne sich auf ein Gericht einzulassen, verwechselt Neugier mit Hingabe. Die Praxis des parallelen Lesens, heute oft als Zeichen intellektueller Agilität oder gar als Tugend der Vielseitigkeit gefeiert, ist in Wahrheit ein Symptom jener kulturellen Fragmentierung, die Tiefe durch Breite ersetzt, Konzentration durch Zerstreuung. Es ist ein Irrtum zu glauben, man könne sich mehreren literarischen Werken gleichzeitig mit derselben Intensität widmen wie einem einzigen. Literatur ist kein Podcast, der nebenbei läuft, während man die Wäsche faltet. Sie ist kein Content, sondern ein Raum, der betreten, durchschritten, bewohnt werden will.
Ein Autor, der ein Buch schreibt, entwirft nicht nur eine Geschichte, sondern ein System: rhythmisch, semantisch, strukturell. Er komponiert Übergänge, setzt Spannungen, verschiebt semantische Gewichte, baut Szenen auf, die sich gegenseitig spiegeln, konterkarieren, verstärken. Wer ein solches Angebot annimmt, übernimmt Verantwortung: für die Kohärenz der Lektüre, für die Integrität der Wahrnehmung. Mehrfachlesen unterläuft diese Verantwortung. Es zerstückelt das literarische Angebot, zerreißt die inneren Fäden, die ein Werk zusammenhalten, und ersetzt sie durch ein Patchwork aus Eindrücken, das mehr über die Rezeptionsgewohnheiten des Lesers aussagt als über das Werk selbst.
Natürlich gibt es funktionale Gründe für parallele Lektüren—Forschung, Vergleich, didaktische Zwecke. Aber wer sich als Literaturliebhaber versteht, sollte sich fragen, ob er wirklich liest oder nur konsumiert. Denn Liebe zur Literatur ist kein Sammeltrieb, sondern ein Akt der Versenkung. Sie verlangt Geduld, Exklusivität, manchmal sogar Askese. Sie duldet keine Gleichzeitigkeit, weil sie auf Resonanz zielt, nicht auf Reichweite.
In einer Zeit, in der Aufmerksamkeit zur knappsten Ressource geworden ist, wird das Lesen eines einzigen Buches zur subversiven Handlung. Es ist ein Akt der Verweigerung gegenüber der Logik des Immer-Mehr, des Immer-Schneller. Wer sich einem Buch ganz hingibt, widersetzt sich der Ökonomie der Ablenkung. Er entscheidet sich für Tiefe statt Breite, für Struktur statt Fragment, für Bedeutung statt bloßer Information.
Literatur ist kein Streamingdienst. Sie ist kein Feed. Sie ist ein Raum, der nur dann seine Tiefe offenbart, wenn man bereit ist, sich in ihn fallen zu lassen—ohne Sicherheitsnetz, ohne Ausweichbuch, ohne parallele Fluchtwege. Wer das nicht will, soll sich nicht Literaturliebhaber nennen. Denn Liebe, auch zur Literatur, ist nicht beliebig. Sie ist eine Entscheidung. Und sie beginnt mit dem Mut zur Konzentration.
