Literatur als Widerstand
Wer bläst wann zur Jagd?
Es beginnt oft leise. Ein Gedanke, ein Zweifel, eine Frage, die nicht ins Raster passt. Kein Angriff, kein Dogma, sondern ein tastender Versuch, die Welt zu verstehen — jenseits der vorgefertigten Erzählungen. Doch kaum ausgesprochen, beginnt die Bewegung: Der Zweifel wird nicht diskutiert, sondern verschoben. Nicht inhaltlich, sondern symbolisch. Nicht widerlegt, sondern ausgewiesen — ins Land der Schwurbler, der Verschwörungsaktivisten, der „Unvernünftigen“.
Diese Verschiebung ist keine epistemische Korrektur, sondern eine soziale Markierung. Sie trennt nicht Wahrheit von Irrtum, sondern Zugehörigkeit von Ausschluss. Und sie geschieht nicht durch Argumente, sondern durch Performanz: durch die Gesten der Empörung, die Rhetorik der Verantwortung, die Zustimmung prominenter Stimmen, die das Urteil besiegeln.
Wenn bekannte Persönlichkeiten sich öffentlich gegen eine Position stellen, geschieht mehr als Meinungsäußerung. Es ist eine symbolische Lizenzierung: Die Masse erhält das Signal, dass Kritik nun nicht nur erlaubt, sondern geboten ist. Was vorher ambivalent war, wird nun eindeutig. Was diskutierbar war, wird nun moralisch delegitimiert.
Die Folge: Mobbing im Namen der Wahrheit. Nicht als Ausnahme, sondern als System. Nicht als Ausrutscher, sondern als Ritual. Der Zweifelnde wird nicht widerlegt, sondern entmenschlicht — als naiv, gefährlich, irregeleitet. Die ursprüngliche Frage verschwindet hinter dem Lärm der Zuschreibungen.
Besonders perfide ist, dass diese Dynamik den Begriff der Kritik selbst deformiert. Der kritische Geist, einst ein Symbol für Aufklärung, Differenzierung und Selbstreflexion, wird nun vereinnahmt — entweder als Pose der „Wahrheitsverteidiger“ oder als Etikett für „Systemgegner“. In beiden Fällen verliert Kritik ihre Tiefe. Sie wird zur Rhetorik, nicht zur Methode.
Was bleibt, ist ein Diskursfeld, in dem Ambivalenz verdächtig ist, Komplexität als Schwäche gilt, und Zweifel als Angriff gelesen wird. Die epistemische Landschaft wird flach, binär, moralisch aufgeladen. Wahrheit wird nicht mehr verhandelt, sondern verkündet — und wer nicht folgt, wird exkommuniziert.
