Rezension

Berührender Nachwende-Roman

Verlassene Nester -

Verlassene Nester
von Patricia Hempel

Bewertet mit 5 Sternen

Pilly lebt in den 90ern mit ihrem alleinerziehenden Vater Martin in einem Wohnkomplex zwischen Industriebrachen, Kasernen und den Elb-Auen. Pillys Mutter Waltraut war nach jahrelangem Ehe-Streit verschwunden. Man sagt, die Grenzregion sei ein Sieb für Menschen, die zu DDR-Zeiten Fluchtpläne schmiedeten und inzwischen ihren Grund zur Flucht verloren hätten. Um mit ihren Freundinnen Katja und Biene auf dem Spielplatz Familie zu spielen, ist Pilly mit 13 Jahren längst zu alt. Das Spiel, in dem sie der Hund sein darf, dient den Mädchen als Vorwand, um die Hierarchie untereinander auszutarieren; es geht um Macht, Eifersucht – und Erotik. Zu Frau Klinge pflegt Pilly eine enge Beziehung. Die pensionierte Lehrerin hat ein Händchen dafür, Pilly zu fördern, indem sie sie beim Verkauf von Eiern und Gemüse aus  ihrer Gartenparzelle mitarbeiten lässt – gegen Bezahlung. Pillys Vater hält durch Frau Klinges  soziale Kontrolle mühsam den Mindeststandard ein, um gerade eben das Sorgerecht für seine Tochter zu behalten.

Im Jahr 1 nach den Ereignissen von Hoyerswerda ist so mancher Nachbar im Ort überzeugt, dass er keine Supermärkte und keine Wiedervereinigung braucht. „Die von drüben“ wollten nur die kleinen Läden in die Pleite treiben. Die Fische, die Eli  für ihre Fischbude fängt und gemeinsam mit Katharina verarbeitet, sind nicht für den Verzehr freigegeben, sie verkauft sie in alter Tradition als „Bückware“. Während rund um Elis historisches Fischerhaus mit Elbblick bereits abgeholzt wird, ist sie selbst noch unentschlossen, ob sie verkaufen will. Unklar ist, wem das Grundstück überhaupt gehört.

Vor der Kulisse der stimmungsvollen Elbnebel bilden die Beziehungen zwischen zahlreichen Figuren einen fein gearbeiteten Gobelin, in dem kein Farbton am Gesamtbild fehlen darf: Die Situation  ehemaliger Vertragsarbeiter aus Vietnam,  Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, Stasi-Tätigkeit, ein Schwestern-Konflikt, Männer, die ohne Muttis Kontrolle verwahrlosen, sexuelle Orientierung -  und was in einer abgelegenen Gegend an Tratsch, Aberglauben und Häme so auf den Tisch kommt. Gerade Pillys kindlich eingeschränkte Wahrnehmung hat mich an das Buch gefesselt; sie bleibt jedoch nicht die einzige Figur,  die mit verblüffenden Fakten konfrontiert wird.

Fazit

„Verlassene Nester“ erzählt  im Wechsel zwischen Pillys Ichperspektive und einem allwissenden Erzähler in authentischem Sound aus der Nachwendezeit.  Ein großartiger, berührender Roman.