Rezension

Ein kleines Buch mit großer erzählerischer Kraft

Die Gräfin -

Die Gräfin
von Irma Nelles

Bewertet mit 5 Sternen

Ein kleines Buch von großer erzählerischer Kraft

Das dünne Büchlein hat ein wunderschönes, ruhiges, den Blick in die Weite lenkendes Cover – allein dieses Äußere sagt sehr viel über den Inhalt aus. Ich habe ein wenig gebraucht, bis ich mich eingefunden habe in die Art des Erzählens. Die Autorin, die erst im höheren Alter diesen Roman schrieb, hat eine besondere Fähigkeit, sehr viel zwischen den Zeilen zu vermitteln. Aber es braucht innere Ruhe, um ihr zu folgen und den Reichtum im Ungesagten zu entdecken.

Es werden 6 Tage geschildert, kein Vorher, kein Nachher, nur 6 Tage im Leben der historisch verbrieften und von Geheimnissen und Mythen umgebenen Hallig-Gräfin Diana von Reventlow-Criminil. Wir haben das Jahr 1944. Die Angst vor den Nazis und gleichzeitig der beharrliche Stolz der Insulaner weht durch die Seiten. Es sind heiße Tage, die Hitze liegt auf dem Meer wie eine schwere Last. Ein englischer Pilot, ein Feind, stürzt mit seinem kleinen Flugzeug ins Watt. Der Hund der Gräfin wittert lange vor den Menschen dieses ungewöhnliche Ereignis. Die Gräfin und Maschmann, ihr getreuer Helfer, ziehen den bewusstlosen Piloten aus seiner Kanzel und bringen ihn auf die Warft. Meta, die seit vielen Jahren das zurückgezogene Leben der Gräfin teilt, pflegt mit Hingabe den Fremden. Diese kleine Gemeinschaft an Menschen erfährt durch die Anwesenheit des Fremden auf sehr individuelle Weise innere Unruhe…

Es passiert nicht allzu viel auf diesen 170 Seiten. Nicht viel, wenn man auf dramatische Ereignisse wartet. Und doch packte mich beim Lesen eine innere Spannung, denn im Grunde geschieht enorm viel, wenn man sich Zeit dafür nimmt zu erspüren, was die Autorin so geschickt zwischen den Zeilen versteckt. Das Kammerspiel am Meer in einer dunklen historischen Zeit zeichnet Menschen mit unaufgeregtem Mut. Es wird nichts totgeplappert, sondern nur das Nötigste geredet. Die Kostbarkeit der Wörter zeigt sich in der leidenschaftlich klassische Texte zitierenden Gräfin. Und es wird fein beobachtet. Und so findet man im Buch wunderbare Landschaftsschilderungen, Stimmungen am Meer und feinfühlig skizzierte Szenen. Der manchmal etwas spröde Sprachstil in seinem besonderen Charme passt genau zu den Menschen, ebenso die eingestreuten plattdeutschen Einwürfe, die spätestens beim laut Vorlesen gut verständlich werden.

Dieses kleine große Buch hat eine immense Kraft, weil es nach der Lektüre, gerade weil der Text irgendwie unvollständig wirkt, noch lange nachtönt und man geneigt ist, über die 6 Tage hinaus die Geschichte in der Fantasie weiter zu träumen.