Rezension

Gelungene Befreiung aus einer prägenden Mutter - Tochter Beziehung

Alle außer dir -

Alle außer dir
von Maria Pourchet

Bewertet mit 5 Sternen

Marie lebt in Paris. Ihr Elternhaus in den Vogesen hat sie längst hinter sich gelassen, ihr Studium abgeschlossen und ihren Doktor gemacht. Sie ist fünfunddreißig, hat gerade entbunden und sich entschlossen, die kleine Adèle allein großzuziehen. Die Erste, die Marie nach der Geburt anruft, ist ihre Mutter. Nach zehn Stunden Schmerz, Blutungen und einer nicht wirkenden Periduralanästhesie wirft die Mutter ihr vor, sie habe sich nicht gründlich genug auf die Geburt vorbereitet. 

Sie wartete vor der Schule auf ihre Mutter, ganze Abende auf Männer, auf Antworten und am Tag der Geburt, auf die Pille, die ihr die Spannung aus der Brust nehmen soll. Das Warten hat sie gelernt. 

Marie kann sich an keine Umarmung erinnern, aber vernünftig war die Mutter in ihren Verboten: kein Fernsehen, keine Barbie, keine Bluejeans, keinen Zucker, kein Mehl, keinen weißen Reis, alles zum Besten des Kindes, das sich nach Kohlehydraten verzehrte.

Als sie mit der Mutter durch die Stadt ging, schaute ein Mann, im Alter ihres Vaters sie an. Die Mutter ohrfeigte sie, alle blieben stehen, blickten auf die Szene.

Das soll dir eine Lehre sein, mit wildfremden Männern zu flirten. S. 100

Nicht mir galt die Ohrfeige, die dafür sorgte, dass sie zehn Jahre lang den Blick vor Männern senkte. Sie war einfach die Erstbeste, die sie stellvertretend für alle gutbürgerlichen Frauen dieser Stadt in Empfang nehmen musste, für all jene, die, stolz und hochnäsig, meine Mutter am Rand hatten stehen lassen. S. 102

Fazit: Maria Pourchet beschreibt eine verheerende Kindheit. Ihre Protagonistin setzt sich im Krankenhaus mit den Demütigungen auseinander. Der Rahmen ist passend, weil es auch hier unterschwellige Vorhaltungen hagelt. Tausend Worte fallen ihr rückblickend ein, die ihr das Gefühl gaben wertlos zu sein. Die sie geprägt haben, so wie ihre Mutter von der eigenen Mutter gebrieft wurde. Maries Mutter hat alle eigenen Selbstzweifel und das Gefühl der Unzulänglichkeit schonungslos, wie Gift in die Tochter sickern lassen. Die Tochter, nun selbst Mutter geworden, will ihr Erbe durchbrechen, ihrer Tochter neue Chancen für den eigenen Lebensweg mitgeben und muss deswegen in die schmerzliche Innenschau. Die Sprache der Autorin ist bewusst anklagend. Sie lässt ihre Protagonistin zurückgeben, was sie selbst erdulden musste. Am Ende wird die Geschichte versöhnlich, der Knoten ist gelöst, Marie spürt Luft in sich aufsteigen, wo vorher kein Raum war. Eine überaus kluge, gelungene Beschreibung einer Befreiung aus einer vergifteten Mutter – Tochterbeziehung.