Bewegender Roman über ungelebte Leben von Frauen
Bewertet mit 5 Sternen
Auf den ersten Blick scheint Jennifer Boyard alles erreicht zu haben: Sie ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und leitet erfolgreich eine Plattenfirma in der Schlagerbranche. Doch hinter der makellosen Fassade wird deutlich, dass ihr Leben von den Entscheidungen und Erwartungen anderer dominiert wird. Als ein Vergewaltigungsvorwurf gegen ihren Vater Bernd, den Gründer der Firma, ans Licht kommt, beginnt diese Fassade zu bröckeln.
"Die Ungelebten" von Caroline Rosales ist ein bedrückender und eindringlicher Roman, der generationsübergreifende Benachteiligungen von Frauen durch toxische Familienstrukturen, Sexismus, gesellschaftliche Rollenbilder und sexualisierte Gewalt im Musikgeschäft thematisiert.
Rosales' Schreibstil ist zugleich angenehm zu lesen und dabei anspruchsvoll sowie tiefgründig. Obwohl der Roman nicht von vielen Spannungsbögen getragen wird, zieht er die Lesenden dennoch in seinen Bann. Besonders gelungen ist die Darstellung des psychosozialen Umfelds der Protagonistin und wie dieses Jennifers Leben prägt und einschränkt. Vor allem die Figur des Vaters sticht als toxischer, manipulativer Charakter heraus.
Es gelingt der Autorin, eine Protagonistin zu erschaffen, mit der man auf vielschichtige Weise mitfühlt, auch wenn sie nicht immer Sympathie erweckt. Man schwankt zwischen dem Wunsch, sie zu schütteln, ihr eine Schulter zum Ausweinen anzubieten, sie zu bemitleiden, zu schützen und sie zugleich für ihre Entscheidungen zu kritisieren.
"Die Ungelebten" hat mich tief bewegt und zum Nachdenken angeregt. Obwohl die dargestellten Schicksale extrem wirken, glaube ich, dass viele Frauen zumindest Teile von sich in den Figuren wiederfinden können.