Rezension

Schnecken im Licht

Alles Licht, das wir nicht sehen
von Anthony Doerr

Bewertet mit 5 Sternen

Mit seiner jüngeren Schwester Jutta wächst Werner Hausner in den 1930er Jahren in einem Kinderheim im Ruhrgebiet auf. Werner ist ein überaus begabter Techniker, der schon als Kind Radios repariert. Natürlich hat er für sich und Jutta einen eigenen Empfänger gebaut. Gebannt lauschen die Kinder den Klängen aus der fernen Welt, besonders Sendungen über Physik haben es ihnen angetan. Etwa zur gleichen Zeit wächst Marie-Laure Leblanc in Paris auf. Schon als Kind ist sie erblindet, doch ihr Vater erklärt ihr die Welt so gut er es kann. Er ist der Herr der Schlüssel im Naturkunde-Museum und er genießt das Vertrauen des Kurators. Für seine Tochter baut er ein genaues Modell der Umgebung ihrer Wohnung, damit sie sich auch alleine zurechtfinden kann und keine Angst mehr haben muss, die Wohnung zu verlassen.

 

Über die Jahre begleitet der Autor seine beiden Helden, die eigentlich nie zu Helden bestimmt schienen. Die zunächst noch relativ ruhigen beinahe glücklichen Zeiten, die nach und nach das Licht verlässt. Immer mehr Einschränkungen gilt es auszuhalten, Entbehrungen zu überstehen. Näher und näher rückt der Krieg, der Marie-Laure nach St. Malo führt, und Werner nach seiner abgebrochenen Schulzeit in einer Napola-Schule in Schulpforta nach Russland. Beide Jugendliche haben Unsägliches auszuhalten, sei es die Ungewissheit über den Verbleib der Lieben oder die Gewissheit über die Zerstörung eines Freundes. Marie-Laure geht dabei den Weg des Lichts, obwohl sie das Licht nicht sieht. Sie wirkt rein und unberührt, manchmal kurz vor dem Verzweifeln, findet sie den Weg. Werner dagegen scheint der Dunkelheit anheim zu fallen, mit Eifer besucht er die Schule, Wissen in sich aufsaugend und seinem einzigen Freund dort nicht beistehend. Nur langsam fast zu spät schleicht sich die Erkenntnis ein, dass Juttas Warnungen eine Wahrheit in sich trugen.

 

Mit zauberhaft berührenden Worten beschreibt der Autor Anthony Doerr die Welt der beiden Jugendlichen. Viel zu früh gezwungen, erwachsen zu werden, wissen sie die kurzen Augenblicke des Einsseins mit der Welt zu schätzen. Müssen aber auch die Schlingen aushalten, die sich durch die Entwicklung der Zeit immer enger um sie zu ziehen scheinen. Genauso eng wird es dem Leser ums Herz, wenn er Marie-Laure zurufen möchte, halte durch!, wenn er Werne wünschen möchte, Fange an, zu denken!, bevor es zu spät ist. So viel Leid bringt der Krieg, so viele Unschuldige müssen ihr Leben lassen. Anlässlich einer Lesereise besuchte der Autor die Stadt St. Malo, deren historischer Kern an drei Seiten vom Wasser umspült ist. Er erfuhr von der Bombardierung durch die Amerikaner im August 1944, bei der die Stadt in großen Teilen zerstört wurde. Und so entstand der Grundgedanke, die Idee zu diesem wunderbaren Roman, der mit Wehmut daran denken lässt, was hätte sein können, was zurückbleibt, was zerstört wird und welche Hoffnung bleibt, wenn Menschen vielleicht auch gestärkt aus dem Leid hervorgehen. Ein Buch in dem man eintauchen kann, dass man erfühlen kann. Eine herausragende Lektüre, ein Leseerlebnis, das nachwirkt und in dem kein Wort verschwendet ist.