Rezension

Wieder ist der unendliche Schmerz zu spüren über den Verlust der Kindheit, die traumatisierenden Erfahrung des Alleingelassenwerdens. Modiano schreibt dagegen an, als der einzigen Möglichkeit, die ihm zu bleiben scheint, will er sein Leben nicht verlieren

Damit du dich im Viertel nicht verirrst - Patrick Modiano

Damit du dich im Viertel nicht verirrst
von Patrick Modiano

Bewertet mit 5 Sternen

Patrick Modiano, Damit du dich im Viertel nicht verirrst, DTV 2017, ISBN 978-3-423-14540-4

 

Patrick Modiano, der 2014 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, was nur die überraschen konnte, die sein Werk nicht oder nur unzureichend kannten, ist ein Schriftsteller, der sich in seinen Büchern mit mehr oder weniger autobiographischem Hintergrund der von ihm perfektionierten Kunst des Erinnerns widmet. Immer wieder geht es um die Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich, in der unzähligen Juden um ihr Leben bangen mussten. Modiano, selbst jüdischer Abstammung, verfolgt ihre Spuren und kümmert sich in seinen Büchern auf diese Weise auch um seine eigenen Wurzeln. In dem Buch „Ein Stammbaum“ hat der zurückgezogen lebenden und die öffentlichkeitsscheue Schriftsteller schon 2007 seine Kindheit beschrieben, eine Zeit, wie sie trostloser, einsamer und unglücklicher kaum hätte sein können. Seine Eltern leben in einer Welt, die mit ihren Sohn nichts zu tun hat. Es ist als gäbe es den kleinen Patrick gar nicht. Die Mutter ist permanent abwesend und kalt, der Vater ist von grausamer Härte und Lieblosigkeit. Ablehnung, Einsamkeit und Bindungslosigkeit- so sieht seine Kindheit und Jugend aus.

Eher teilnahmslos bringt Modiano etwas Licht in die Dunkelheit seiner Herkunft. Erschütternd, das kein einziger Mensch auftaucht, der ihm mit Liebe oder Zuneigung begegnen würde. Umso erstaunlicher, wie sich sein Schaffen dennoch entwickeln konnte. Nicht ohne Grund endet „Ein Stammbaum“ mit der Veröffentlichung seines ersten Buches.

Auch das hier vorliegende neue Buch „Damit du dich im Viertel nicht verirrst“ erinnerte mich wieder an Susanna Tamaros Lebensbericht „Ein jeder Engel ist schrecklich“,  wo sie schreibt:
„Weil ich mit dem Feind in mir lebe, mit dem Nebel, der Nacht, der Verwirrung. Weil ich den Schmerz sehe und nichts dagegen tun kann. Weil ich das Unvollkommene sehe, die Leere, das Scheitern, und deren Sinn nicht begreife. Weil ich allein bin, weil mir keiner zuhört, mich niemand an der Hand nimmt. Weil ich irgendwo in mir eine immense Harmonie und ein immenses Licht erahne, und ich mich von diesem Licht und dieser Harmonie entferne wie ein Schiff, das in See sticht. Was zu Anfang der Sinn jedes Atemzugs war, wird mit der Zeit zum Blinken eines Leuchtturms in der Ferne. Ich weine, weil ich Angst habe vor der Leere und der Einsamkeit, die mich erwarten.“

 

Vorsichtig, unsicher tastend, immer wieder überprüfend und zweifelnd sucht er auch im neuen Buch nach Erinnerungen. Es hat den Anschein, als könne er ohne sie nicht überleben, als gäbe die stückweise Rekonstruktion er eigenen Kindheit und Jugend, bis zu dem Zeitpunkt, als er anfing zu schreiben über eben diese, seinem Leben einen Halt und eine Sicherheit  ohne den er vergehen müsste, ohne die er sich als eigene Existenz sozusagen auflösen würde.

 

Auch im neuen Buch sucht er in unzähligen Rückblenden die Zeit seiner Kindheit auf. Jean Daragne, ein einsam und alleinlebender Schriftsteller ist sein Alter Ego. Als Daragne eines Tages Besuch erhält von Gilles Ottolini und Chantal Grippay, die ihm ein von ihnen gefundenes Notizbuch zurückgeben, tut dieser das nicht selbstlos. Er erhofft sich von Daragne Informationen zu einem Kriminalfall, den er gerade in einem Buch bearbeitet. Doch der kann sich nicht erinnern und macht sich af die Suche nach Orten und Personen, die wichtig waren in seinem Leben als er etwa sieben Jahre alt war. Doch es bleibt bei nebulösen Andeutungen. Bis hin zu einer Flucht nach Rom, an der  der kleine Jean Daragne mit Annie Astrand, einer Freundin seiner Mutter beteiligt ist.

"Und ich schwöre dir, in Rom werden sie uns nie finden." Modiano lässt den Leser im Unklaren, was die Gefahr nun genau ist und wovor die beiden flüchten. Oft wird nur von Schatten gesprochen. Wie schon im „Stammbaum“ und in etlichen anderen Büchern beschriebt Modiano ein Leben, das sich selbst fremd ist: : "Dieses Kind, von vielen Jahrzehnten in so graue Ferne gerückt, dass ein Fremder aus ihm wurde, nun musste er sich's eingestehen, das war er."

 

Wieder ist der unendliche Schmerz zu spüren über den Verlust der Kindheit, die traumatisierenden Erfahrung des Alleingelassenwerdens. Modiano schreibt dagegen an, als der einzigen Möglichkeit, die ihm zu bleiben scheint, will er sein Leben nicht verlieren. Er setzt so mit jedem Buch die Rekonstruktion seiner eigenen Geschichte aus Fragmenten zusammen.

 

Wenn man als Leser für die eigene Lebensgeschichte, insbesondere für die Brüche und Abbrüche darin, genügend sensibel und offen ist, wird man auch in diesem Buch vieles finden, was einen tief berühren und öffnen kann.