Rezension

Ein Buch mit Suchtpotential

Der totale Rausch - Norman Ohler

Der totale Rausch
von Norman Ohler

Bewertet mit 5 Sternen

»Gestoßen bin ich auf den Stoff in Koblenz, und zwar in der nüchternen Umgebung des Bundesarchivs … Der Nachlass von Theo Morell, des Leibarztes von Hitler, ließ mich nicht mehr los. Immer wieder durchblätterte ich Morells Tageskalender: kryptische Eintragungen, die sich auf einen »Patienten A« bezogen. Per Lupe versuchte ich, die kaum leserliche Handschrift zu entziffern. Die Seiten waren vollgekritzelt, häufig las ich Einträge wie »Inj. w. i.« oder einfach nur »x«. Ganz allmählich klarte das Bild auf: tägliche Injektionen, merkwürdige Substanzen, steigende Dosierungen.«

Drogen im Dritten Reich – ein faszinierendes Thema! War es nicht so, dass Adolf Hitler sich als asketisch lebenden Vegetarier darstellte? Der größten Wert auf einen gesunden Körper legte? Und dessen Partei eine strikte Antidrogenpolitik fuhr, bei der Süchtige in geschlossene Anstalten zwangseingewiesen wurden, eine Einordnung als „kriminell geisteskrank“ möglich war und nicht selten Euthanasie die Folge?

 

Die Wahrheit sah wohl ganz anders aus. Norman Ohler hat sich auf Spurensuche begeben, hat fünf Jahre lang in Archiven in Deutschland und den USA recherchiert, zahlreiche Originaldokumente ausgewertet, darunter auch solche, die bislang gesperrt waren. Er hat Originalschauplätze besucht, mit Zeitzeugen, Militärhistorikern und Medizinern gesprochen. Das Ergebnis ist erschütternd. Und erklärt doch so einiges…

 

Das Buch widmet sich zunächst der Volksdroge Pervitin. Der Inhaltsstoff Methamphetamin ist heute als Crystal Meth bekannt. Entsprechend fassungslos liest man von methamphetaminhaltigen Pralinen für die Hausfrau („die Hausarbeit geht dann ganz leicht von der Hand“), betrachtet ein Werbeplakat der Temmler-Werke, das Pervitin als „Stimulans für Psyche und Kreislauf“ anpreist. In der Folge sollte sich die Aufgabe des Pervitins wandeln, es zum unverzichtbar erscheinenden Mittel werden, von dem bei Temmler pro Woche mehrere Millionen Pillen gepresst wurden. Ein Mittel, das Eltern ihren Söhnen zusammen mit Speck und Zigaretten an die Front schickten. Und dessen Einnahme im weiteren Verlauf des 2. Weltkriegs den Soldaten von ihren Vorgesetzten angeordnet wurde. Tatsächlich gelangen der Wehrmacht mit Pervitin zunächst erstaunliche Dinge – dies wird hier am Beispiel „Blitzkrieg“ deutlich dargestellt. Irgendwann jedoch half die Droge nur noch beim Durchhalten. Stärkerer Stoff musste her…

An dieser Stelle kann man schon den Kopf schütteln, doch es kommt noch viel härter. Mit deutscher und wissenschaftlicher Gründlichkeit wurden diverse Mittel getestet, unter anderem an KZ-Häftlingen. Das Buch bildet Originaldokumente ab, wie zum Beispiel den „Arzneimittelversuch zur Hebung der Leistungsfähigkeit und Wachhaltung“ aus dem KZ Sachsenhausen.

Dass man den Soldaten mit der verordneten Einnahme nicht gerade etwas Gutes tut, dass man damit erhebliche Nebenwirkungen und negative gesundheitliche Folgen billigt, war bekannt. Jedoch…
»Die militärische Führung steht auf dem Standpunkt, daß in diesem Krieg, wenn es erforderlich ist, auch Schädigungen durch stark wirkende Medikamente in Kauf genommen werden müssen.«

 

Dem Volk unter Drogen ist ein Schwerpunkt des Buchs gewidmet. Der andere befasst sich mit „Patient A“. Zu den Dokumenten, die der Autor studiert hat, zählen auch die Aufzeichnungen von Theo Morell. Danach präsentiert sich der größenwahnsinnige, massenmordende Psychopath Hitler nun außerdem als Junkie der schlimmsten Sorte. Natürlich handelt es sich hier um Rückschlüsse, die aus den genannten Aufzeichnungen resultieren. Aber diese wurden mit großer Akribie geführt und machen letztlich einen stimmigen Eindruck. Morell war über Jahre hinweg täglich an Hitlers Seite, ein Dealer in Dauerbereitschaft, der Tag und Nacht auf Abruf zur Stelle war, um die gewünschte „Führermischung“ zu spritzen. Was durch die Adern Hitlers floss, war ein bunter Mix aus über achtzig verschiedenen Mitteln, darunter Vitamine, härteste Drogen und teils sehr unkonventionelle Hormonpräparate.

 

Bei solchen Schilderungen stellt man sich zwangsläufig die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der Leser muss aber nicht befürchten, dass Norman Ohler das Bild eines Mannes entwirft, der nicht mehr wusste, was er tat. Er kommt vielmehr zu einem anderen Schluss:
»Auf diesem Schmerzstiller und Betäuber schien der Führer ganz bei sich: Das war der wahre Hitler, und so war er auch früher schon gewesen. Denn seine Ansichten und Pläne, die Überschätzung der eigenen Bedeutung und das Verkennen des Gegners standen alle schon festgeschrieben ... Er konnte noch so viele Drogen nehmen, um sich weiterhin in dem Zustand zu halten, in dem er seine Taten begehen konnte: Es mindert nicht seine monströse Schuld.«

 

Nach der Lektüre erscheint mein Bild von diesem dunklen Abschnitt Deutscher Geschichte erheblich runder. Die aufgestellten Thesen und Rückschlüsse belegt der Autor mit fast fünfzig Seiten Anmerkungen, Quellenangaben und Bildnachweisen. An der ein oder anderen Stelle hätte es der Sachbuchcharakter meiner Meinung nach verlangt, die Person Hitlers distanzierter und neutraler zu beschreiben, aber ich habe großes Verständnis für jeden, dem das in diesem speziellen Fall nicht immer möglich ist.

 

Fazit: Ein Buch mit Suchtpotential. Thematik und Stil fesseln derart, dass man es nicht aus der Hand legen mag.