Buch

NS-Medizin und Öffentlichkeit - -

NS-Medizin und Öffentlichkeit

von -

Einleitung Stephan Braese und Dominik Groß

Am 23. Mai 2012 verabschiedeten die Delegierten des Nürnberger Ärzte-tages eine Erklärung, in der die deutsche Ärzteschaft erstmals die Opfer und ihre Nachkommen um Verzeihung für die Taten bittet, die deutsche Mediziner im Nationalsozialismus verübten. Die Erklärung war abgefasst am Ort des Ärzteprozesses von 1946/47, einem der Folgeverfahren im Rahmen der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse. Sie widerspricht aus-drücklich zwei Annahmen, die jahrzehntelang die Verteidigungsstrategien nicht nur direkt Beschuldigter, sondern auch der deutschen organisierten Ärzteschaft schon unmittelbar seit der militärischen Niederschlagung des NS-Regimes bestimmten: der Thesen, dass die Verbrechen vor allem poli-tischem Druck geschuldet und dass sie Taten nur einzelner Ärzte gewesen seien. Demgegenüber wird jetzt einbekannt, dass "die Initiative gerade für diese gravierendsten Menschenrechtsverletzungen nicht von den politischen Instanzen, sondern von den Ärzten selbst" ausgegangen und dass die Verbrechen unter Mitwirkung führender Repräsentanten der Ärzteschaft und medizinischer Fachgesellschaften, darunter herausragende Vertreter der universitären Medizin und renommierte Forschungseinrichtungen, verübt worden sind. Die klaffende Verspätung dieses Schuldanerkenntnisses - rund 65 Jahre nach der juristischen Offenlegung der Taten - hat mehrere Ursachen. Sie wurzeln in einer systematischen jahrzehntelangen Tabuisierung des Verhältnisses zwischen Medizin und Nationalsozialismus, die erst seit den 1980er Jahren aufzubrechen begonnen wurde. Eine enorme Rolle in diesem generationenübergreifenden Schweigebündnis - das auch viele andere Bereiche der bundesrepublikanischen Gesellschaft prägte - spielten die in der akademischen Sphäre besonders virulenten Lehrer-Schüler-Ver-hältnisse, Freundschaftsbeziehungen und Verwandtschaftsverhältnisse, die gerade in der akademischen Medizin mit einem hohen Grad intergene-rationeller Berufsvererbung von erheblicher Bedeutung waren. Doch diese Tabuisierung zielte nicht nur darauf, persönliche - justitiable und moralische - Schuld von Medizinern zu verschleiern. Sie blockierte zugleich Fragen nach dem Verhältnis zwischen dem Nationalsozialismus und den Wissenschaften generell. Dieser Zusammenhang wird in der Doppelbedeutung aufgerufen, die die Benennung, gar die Anrede "Doktor" in der umgangssprachlichen Verwendung noch heute trägt: zum einen die Bezeichnung des Arztes, des Heilkundigen, zum andern die des akademisch Graduierten, des Angehörigen der Gemeinschaft der Wissenschaftler, deren Suche nach Wissen den in Jahrhunderten ausgebildeten und kanonisierten Regeln ebenso alter Institutionen folgt. Vielleicht weil der Mediziner jener Akademiker war, mit dem der akademisch nicht Gebildete am ehesten persönlich in Berührung kam, ist der graduierte Arzt zu nichts Geringerem als dem paradigmatischen Wissenschaftler in der kollektiven Imagination geworden. In der Debatte um NS-Medizin und -Mediziner war und ist daher das Verhältnis nicht nur seiner Disziplin, sondern das der wissenschaftlichen Fächer, ihrer Berufe und derer, die sie in den Universitäten, in den Forschungsstätten und anderen gesellschaftlichen Orten ausüben, potenziell stets mit verhandelt. Zugleich ist es gerade der Arztberuf, der den Missbrauch wissenschaftlichen Wissens zum Schaden des Menschen besonders unmittelbar, sinnlich vorstellbar, aufzurufen vermag. Der weiß bekittelte Mediziner, der sich etwa im Krankenblock eines Vernichtungslagers an der körperlichen Unversehrtheit ihm Ausgelieferter ›zu medizinischen Forschungszwecken‹ vergeht, hat wohl immer mehr Abscheu hervorgerufen als der Wirtschaftswissenschaftler oder der Germanist, die im Hörsaal den neuen Wirtschaftsraum Ost entwarfen oder über die Unterschiede zwischen völkischer und entarteter Literatur dozierten. Zwar leisteten auch Geistes- und Gesellschaftswissenschaften einen entscheidenden Beitrag zu jener intellektuellen und moralischen Zurichtung der Deutschen, die die Durchführung von Angriffskrieg und Vernichtungsverbrechen ermög-lichte. Doch es ist die besondere, im hippokratischen Eid besiegelte Ver-pflichtung des Arztes auf das Wohl des ihm anvertrauten Menschen, das heißt dessen genuine Rolle als "Heiler", die ihn zu jener Figur gemacht hat, die wie keine andere die Frage nach der Ethik von Forschung und Wissenschaft aufgeworfen hat und fortwährend aufwirft. Die juristische, geschweige denn die gesellschaftliche Aufarbeitung der NS-Medizin, gerade mit Blick auf ihre weitergehenden Implikationen hin-sichtlich des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Ethik, beschränkte sich nie auf die Fachöffentlichkeit von Ärztekammern und medizinischen Fakultäten. Die konstitutive Rolle gesellschaftlicher Öffentlichkeit bei der Bestimmung von Schuld und der Selbstverständigung über verbindliche Werte und Normen ist in der europäisch-angelsächsischen Tradition der Rechtsprechung im Gebot des öffentlichen Verfahrens - so auch bei den Nürnberger Prozessen - anerkannt. Doch das Publikum eines Gerichtsverfahrens war - und ist - nur der Repräsentant einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die in einer Vielzahl eigener Institutionen und Medien jene Fragen verhandelt, die das Leben der Bürger bestimmen. Gerade auch die Literatur wirkt sowohl auf die kollektiven Vorstellungen über historische Sachverhalte als auch auf das öffentliche Diskursverhalten ein. Beispiele hierfür sind Rolf Hochhuths Stellvertreter und Peter Weiss' Die Ermittlung. In beiden Dramen, die als Hauptwerke literarischer Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gelten, nehmen NS-Medizin und -Mediziner zentrale Rollen ein. Sie haben erst mit einer gewissen Verspätung, die einer psychologischen Latenzfrist ähnelt, Eingang in die Literatur gefunden. In dem Maße, in dem die spektakulären Inszenierungen dieser Dra-men, aber auch Texte von so unterschiedlichen Autoren wie Alexander Kluge und Martin Walser, Hans-Ulrich Treichel und Marcel Beyer Einfluss auf das kollektive Gedächtnis ihrer Leserschaft hinsichtlich der NS-Ära und ihrer Verbrechen genommen haben und immer noch nehmen, tragen auch die NS-Mediziner-Figuren dieser Texte mit bei zum historischen Bild des NS-Arztes in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Es ist aber gerade auch diese Vorstellung, die den historischen Fond auch aktueller Diskussionen über das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Ethik bildet. Der vorliegende Band schreitet erstmals das gesamte Panorama der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in der Ge-schichte der Bundesrepublik Deutschland ab. Es ist zum einen bestimmt durch das unmittelbare Echo auf die juristische Urteilsfindung im Nürn-berger Folgeprozess 1946/47 (zunächst in der folgenreichen Dokumenta-tion von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke sowie in Presseorganen wie Spiegel und Zeit) und die langwierigen Auseinandersetzungen, oft aus Anlass brisanter Personalien, in medizinischen Fakultäten und der Bundesärztekammer bis in die Gegenwart hinein. Zum anderen ist dieses Echo jedoch nicht minder geprägt worden durch die literarischen Darstellungen von NS-Ärzten in deutschsprachigen Dramen und Erzählungen vom Anfang der 1960er Jahre bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts. Dabei wird einmal mehr offenkundig, dass die Literatur anderen Formtraditionen und Genregesetzen folgt als die wissenschaftlichen Diskurse von Medizin und Rechtsprechung. Doch zugleich wird erkennbar, dass die unterschiedlichen textuellen Genres ein je eigenes Leistungsvermögen einbringen in das gemeinsame Unternehmen, Einsichten in die NS-Medizin zu vermitteln. Von diesem Leistungsvermögen, aber auch seinen charakteristischen Grenzen handeln die vorliegenden Beiträge. Der Nürnberger Ärzteprozess von 1946/47 und seine Dokumentation durch Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und Alice von Platen-Hallermund stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Jürgen Peter. Peter legt dar, dass mit Mitscherlich, einem eben erst habilitierten Privatdozenten, zwar ein unbelasteter Vertreter der Ärzteschaft für die Aufgabe der Dokumentation hatte gewonnen werden können, die organisierte Ärzteschaft jedoch ungeachtet der in Nürnberg vorgelegten Dokumente alles daran setzte, eine "Kollektivschuld der deutschen Ärzte" zurückzuweisen. Eine erste Dokumentenbroschüre unter dem Titel "Das Diktat der Menschenverachtung" wurde in Fachkreisen durchaus rege rezipiert, wenn auch die Fachpresse das Druckwerk ignorierte; gleichzeitig setzten Angriffe aus der Ärzteschaft auf Mitscherlich ein. Die Auflage einer revidierten Zusammenstellung der Dokumente unter dem Titel Wissenschaft ohne Menschlichkeit, die 1949 erschien, verschwand unter bis heute ungeklärten Umständen fast vollständig vom Buchmarkt. Ärzte wie Ferdinand Sauerbruch reichten Klagen gegen die Schrift ein. Arnd Schweitzer zeichnet das Echo sowohl des Nürnberger Ärzteprozesses als auch der NS-Medizin allgemein in Spiegel und Zeit nach. Nach wenigen Berichten aus dem Nürnberger Gerichtssaal erreicht die Darstellung in den 1950er Jahren in beiden Organen einen Tiefpunkt, bevor sie in den 1960er Jahren erneut an Fahrt aufnimmt - analog zu einem allmählich zunehmenden gesellschaftlichen Interesse an einer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Schweizer legt zugleich offen, in wie hohem Maß einzelne Persönlichkeiten, wie etwa der freie Journalist Ernst Klee, aber auch Rudolf Walter Leonhardt in der Zeit sowohl Einfluss auf die Frequenz als auch die Tendenz der Berichterstattung nahmen. Wer kritisch berichten wollte, etwa über "die Verzahnung der Ärzte mit dem System", stieß auf Gegner in den Redaktionen. Manche Berichterstattung löste hingegen staatsanwaltliche Ermittlungen aus. Carola Döbber, Gereon Schäfer und Dominik Groß zeigen am Beispiel des Aachener Mediziners Georg Effkemann auf, wie schnell und in wie hohem Maß die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft NS-belastete Ärzte wieder zu integrieren vermochte. Trotz frühzeitigen Eintritts in die NSDAP, seiner Mitgliedschaft in der SS-Division Wiking und seinem Rang als SS-Hauptsturmführer gelingt Effkemann - auf der Basis "falscher Angaben und geschönter Leumundszeugnisse" - eine erfolgreiche ›Entnazifizierung‹ und die Berufung zum Chefarzt der Aachener Städtischen Krankenanstalten 1948. Hinsichtlich der Berufungspolitik stellen die Autoren fest: "Sofern es eindeutige Hinweise auf politische Verstrickungen gab, wurden diese ignoriert, ausgeblendet oder durch Leumundszeugnisse ›kompensiert‹". Es sind diese Verhältnisse, die den Grund legten für die jahrzehntelange Tabuisierung der NS-Medizin. Ralf Forsbach schreitet in seinen Ausführungen die Geschichte der Auseinandersetzung der Fachverbände mit der NS-Vergangenheit vom Nürnberger Prozess bis in die Gegenwart ab. Belastende Kontinuitäten äußern sich dabei immer wieder in Personalien, wie etwa der Hans-Joachim Sewerings, der, bereits 1933 SS-Mitglied, trotz des begründeten Verdachts aktiver Teilhabe an der Euthanasie 1993 kurz vor der Ernennung zum Präsidenten des Weltärztebundes stand. Seit den 1960er Jahren jedoch begann "eine wachsende Minderheit", so Forsbach, nach den Laufbahnen zahlreicher "wieder zu Amt und Würden gekommener Mediziner" zu forschen - Startpunkt zahlreicher Untersuchungen zur Geschichte medizinischer Fakultäten während der NS-Zeit. Neben neuen Formen des Gedenkens seien jedoch auch direkte Wirkungen dieser Aufarbeitung zum einen für die Gesundheitspolitik etwa der 1970er Jahre - etwa in der Psychiatrie -, zum anderen für Debatten auch der Gegenwart - beispielsweise über Sterbehilfe - zu beobachten. Die genaue Verlaufsstudie der Geschichte einer solchen Auseinander-setzung legt Volker Roelcke mit seinem Blick auf die Bundesärztekammer in den Jahren von 1985 bis 2012 vor. Wenn er von "Formen der (Nicht-) Thematisierung" spricht, so wird bereits in dieser Formulierung offenkun-dig, dass sich auch diese Ständeorganisation wie viele andere Institutionen innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft einer Rede zu bedienen versuchten, die zwar nominell NS-Zeit und -Verbrechen thematisierte, tatsächlich virulente Berührungsflächen jedoch zu vertuschen trachtete. Das einschlägig notorische Vilmar-Interview von 1987, in dem der Präsident der Bundesärztekammer - in Entgegnung eines Artikels in der renommierten britischen Fachzeitschrift Lancet - nur von wenigen hundert Ärzten wissen wollte, die sich schuldig gemacht hätten, während die weit überwiegende Mehrzahl der Ärzte nichts habe wissen können, wurde geradezu zum Auslöser einer kritischen Bewegung innerhalb der organisierten westdeutschen Ärzteschaft. Roelcke zeichnet nach, auf welche Weise die Leitung der Bundesärztekammer - über ihr Mitgliederblatt sowie über die Finanzierung oder Mitfinanzierung von Aufsatzbänden und Dokumentensammlungen - in den Jahren seither die Aufklärung über die Kooperation zwischen deutschen Medizinern und dem Nationalsozialismus zu fördern, aber zugleich auch zu kontrollieren versuchte. An Stelle der wortlosen Zusammenarbeit der Tätergeneration zum gegenseitigen Schutz vor gerichtlicher Verfolgung ist nun eine elaboriertere Einhegung kritischer Positionen durch Jüngere getreten, getragen von der Sorge "um ein unbeflecktes Ansehen in der Öffentlichkeit, […] die Aufrechterhaltung der Standesehre". Matthias N. Lorenz widmet sich den Darstellungen von NS-Medizinern in den Werken eines der prominentesten Schriftsteller der westdeutschen Nachkriegsliteratur: Martin Walser. Im bereits 1962 erschienenen Drama Eiche und Angora wird SS-Arzt Dr. Zerlebeck in grotesker Verzerrung zur Darstellung gebracht, sein Opfer hingegen - im Rahmen einer, so Lorenz, unstatthaften "Täter-Opfer-Nivellierung" - ist "nicht etwa ein jüdischer Zwilling oder russischer Soldat", sondern "niemand anderes als der ›deut-sche Michel‹". Im Schwarzen Schwan (1963) schließlich gestaltet Walser das Skandalon der NS-Medizin als Generationenkonflikt zwischen Professor Goothein und dessen Sohn. Indem der Sohn die Autorschaft an einem von seinem Vater unterzeichneten Brief beansprucht, in dem es um die Deportation von Häftlingen in das KZ Groß-Rosen geht - und dessen Wortlaut auf einem Dokument aus Mitscherlichs/Mielkes Wissenschaft ohne Menschlichkeit beruht -, versucht er, dessen Geständnis zu erzwingen. Auch in diesem Drama erkennt Lorenz eine Ausblendung der historischen Opfer, aber auch den Verzicht auf die Thematisierung von Konkreta der NS-Medizin vor und nach 1945: "Der ganze medizinische Verbrechenskomplex wird […] zu einer austauschbaren Chiffre, die wahlweise die Schuld - wie in Eiche und Angora - als soziales Phäno-men aus Sicht sogenannter einfacher Leute exterritorialisiert oder aber - wie in Der Schwarze Schwan - als Verhängnis benutzt, um Gewissenskonflikte im Täterkollektiv zu verhandeln." Wenn Rolf Hochhuths 1963 uraufgeführtes Drama Der Stellvertreter vor allem deswegen Aufsehen erregte, weil es erstmals in öffentlich sichtbarer Weise das Schweigen des Vatikans zum Holocaust thematisierte, so nimmt dort die Figur des "Doktors" gleichwohl eine zentrale Stelle ein. Aurélia Kalisky zeigt auf, wie über diese Figur der "Mythos Mengele" Eingang in ein Dokumentardrama findet, das der Autor im Untertitel als Ein christliches Trauerspiel ausgibt. In dieser Verbindung zweier sehr unterschiedlicher, ja, gegenläufiger Traditionen erkennt Kalisky die Ursache für Leistung wie Schwäche des "Stellvertreters" in Hinblick auf die Darstellung der NS-Medizin: Zwar rufen die mythisierenden Elemente "eine metaphysische Dimension" auf, die unmittelbarer als die Konkreta der medizinischen Versuche in den Lagern den Traditionsraum ethischer Reflexion zu eröffnen scheinen. Doch letztlich gehe in Hochhuths Drama "die Realität der rassenideologischen Täterschaft […] vollends im Mythos unter". Die Inkompatibilität zwischen dem Dokumentar-Realismus des Dokumentartheaters und der Mythisierung des NS-"Doktors" zeige sich deutlich auch in der Verfilmung des Stellvertreters durch Costa-Gavras 2002. Auch in Peter Weiss' Drama Die Ermittlung, das 1965 - unterstützt durch eine simultane Uraufführung an 15 Orten in der BRD, der DDR und England - eine besonders spektakuläre Wirkung erzielte, nimmt die NS-Medizin eine prominente Rolle ein. Hans-Joachim Hahn zeichnet nach, auf welche Dokumente sich Weiss, aber auch Alexander Kluge für seinen berühmten Text Ein Liebesversuch in den drei Jahre zuvor, 1962, erster-schienenen Lebensläufen stützten. Ähnlich wie Horkheimer und Adorno, so Hahn, erkennen beide Autoren in der NS-Medizin jene instrumentelle Rationalität am Werk, die eine zentrale Funktion auch in den gegenwärti-gen Gesellschaften einnehme. Kämen in Weiss' Drama Opfer zu Wort, beschränke Kluge sich auf die kühl beobachtende Protokollsprache der Täterseite. So sehr beide literarischen Texte auf eine ethische Reflexion beim Publikum zielen, so sehr falle gleichwohl auf, dass sich "beide Schreibverfahren ungeachtet ihrer jeweiligen Kritik an instrumenteller Vernunft selbst am Ideal versachlichter und von Emotionen freier Spra-che" orientieren. Erik Porath erinnert am Beispiel von Ira Levins Roman The Boys From Brazil (1976) nicht nur daran, dass auch außerhalb des deutschsprachigen Raums die Figur des NS-Mediziners enormen Widerhall in Kunst und Kultur gefunden hat, sondern dass diese Darstellungen als Film immer wieder auch ein deutsches (Massen-)Publikum zu erreichen vermocht ha-ben. Der monströse Plot von Buch und Film macht deutlich, dass die lite-rarische Phantasie jenseits der westdeutschen Nachkriegsliteratur mit einer größeren ›Unbefangenheit‹ die NS-Medizin zu ihrem Ausgangspunkt genommen hat: Nachdem KZ-Arzt Dr. Mengele vor etlichen Jahren 94 Hitler-Klone mit Hilfe ahnungsloser Leihmütter in die Welt gesetzt hat, steht er nun vor der Aufgabe, ihre 94 Adoptivväter zu töten, "damit der ›kommende Hitler‹ […] dieselbe traumatische beziehungsweise befreiende Erfahrung macht wie das Vorbild". Gleichzeitig hat sich "Nazijäger Jakob Liebermann", nach dem Vorbild Simon Wiesenthals gestaltet, an die Spur Mengeles geheftet. Porath legt dar, wie sowohl der historische eugenische Diskurs als auch die zunehmend erfolgreicheren Versuche des Klonens Eingang in Roman und Film finden. Dabei wird deutlich, dass sehr alte Motive wie die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, aber auch die Angst vor dem Doppelgänger eine prekäre Mischung mit jenem Schauder eingehen, den der experimentierende NS-Arzt aufruft. Roman wie Film demonstrie-ren, so Porath, die Vorherrschaft solcher psychologischen Motive vor historischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Sachverhalten in ihrer Thematisierung von NS-Medizin und ihren Tätern. In seinem Roman Flughunde entfaltet Marcel Beyer, so Cornelia Blasberg, die subtile Deckerzählung eines NS-Akustikers, dessen Aktivität weit über das Ende der NS-Ära, das er im "Führerbunker" erlebt, hinaus anhält. Beyer gebe beides zugleich, "eine Wissenschaftlerkarriere in Diktaturzeiten und […] eine musterhafte und nach Mustern gefertigte Entschuldungs-Biographie", zu lesen. Blasberg zeigt, wie selbst das Schicksal der Goebbels-Kinder, die im Auftrag ihrer Mutter vergiftet werden, als Empathie weckendes Opferzeugnis zugunsten der Täterbiographie funktionalisiert wird - und wie die Erkenntnis dieser und einiger weiterer diskursiver Maßnahmen im Dienste des Ich-Erzählers zu den Leistungen gehört, die dem Leser von Beyers Roman abverlangt werden. Mit Hans-Ulrich Treichels Roman Der Verlorene rückt Ulrike Vedder ei-nen literarischen Text in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, der einer ganz anderen Phase künstlerischer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit entstammt. Zum Zeitpunkt seines Erscheinens - 1998 - schien ihre öffentliche ›Aufarbeitung‹ sehr fortgeschritten, wenn nicht weithin abgeschlossen. Gleichsam folgerichtig ist der Roman aus der Perspektive eines Nachgeborenen abgefasst. Der traumatische Verlust seines älteren Bruders während der chaotischen Flucht seiner Eltern aus dem deutschen Osten gegen Kriegsende mündet in deren Sehnsucht, ein elternloses Findelkind möge als der verlorene Bruder identifiziert werden, wozu jedoch zahlreiche "anthropologisch-erbbiologische Abstammungsgutachten" verfasst und am Ich-Erzähler aufwändige Schädelvermessungen vorgenommen werden müssen. Diese Untersuchungen selbst, aber auch der durchführende Arzt Prof. Dr. phil. et med. Freiherr von Liebstedt von der Universität Heidelberg sind unschwer als bruchlose Fortsetzung jener NS-Medizin zu erkennen, die zu den Menschenversuchen in den Lagern führte. Vedder legt dar, wie "die fortdauernde untergründige Präsenz der anthropometrischen und biomedizinischen Wissensbestände und -umstände" jenes "Nichtvergehen des Vergangenen" flankieren, das die "Traumatisierungen und Verlo-renheiten der Figuren" unauflösbar macht. An Treichels Text, vor allem aber an Werken Ilse Aichingers demons-triert Christine Ivanovi? den "langen Weg der Erfahrung in die Texte". An einer kurzen Episode aus Aichingers Film und Verhängnis, die von einem Besuch Mengeles bei ihrer Mutter und ihren beiden Zwillingstöchtern Helga und Ilse handelt, skizziert Ivanovi? zum einen die Bedeutung der Inkubation, zum andern die Bedeutung des Zwillingsmythos als Paradigma eines gewaltsamen Eingriffs in Genealogie und Herrschaftsordnung. Indem sie Treichels Bruder analog zur Konstellation der Aichinger-Zwillinge als Alter Ego des Erzähler-Ichs liest und den autobiografischen Gehalt der Treichel-Erzählung auffaltet, gibt sie auch diesen Text als Beispiel einer literarischen Inkubation zu lesen, an deren vorläufigem Ende und unter paradoxer Mitwirkung der Methoden nationalsozialistischer Ärzte die Einsicht in die "Unmöglichkeit" steht, "das Verlorene zu restituieren". In ihrem Nachwort charakterisiert Liliane Weissberg Geschichtsschrei-bung und Literatur als "zwei recht unterschiedliche Wissensproduzenten", die jedoch unter identischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - zunächst der Restauration und ihres Schweigegebots, sodann einer schließlich unvermeidlich gewordenen Selbstkonfrontation mit den NS-Massenverbrechen und verschiedenen Modi der Aufarbeitung - in teilweise verblüffende Nähe gerückt seien. Den großen Prozessen in Nürnberg und Frankfurt etwa, die selbst "als eine Art Inszenierung" verstanden werden konnten, entsprach die Fokussierung auf das Theater durch die herausragenden literarischen Thematisierungen von NS-Medizinverbrechen in den1960er Jahren, etwa von Hochhuth, Weiss und Walser. Auch die Fixierung auf - im Journalismus auch gern als dämonisch gezeichnete - Einzeltäter hat in der Literatur dieser frühen Jahre - mit der Ausnahme von Weiss' Ermittlung - ihre Parallele. Die stärker sozial- und gesellschaftswissenschaftliche Ausrichtung der Geschichtsschreibung seit den 1970er Jahren hingegen teilt mit der literarischen Prosa der letzten Jahrzehnte ihre stärkere Orientierung "auf die Alltagswelt deutscher Bürger im Dritten Reich sowie auf den Einfluss von NS-Medizin und NS-Ideologie auf diesen Bereich". Zwar gereiche der Literatur zum Vorteil, so Weissberg, dass sie gegenüber der fachwissenschaftlichen Untersuchung in stärkerem Maß als work-in-progress auftrete und dadurch die Unabgeschlossenheit der Vergangenheit nachhaltiger zum Ausdruck zu bringen vermöge. Doch dies ändere nichts daran, dass Literatur wie Geschichtswissenschaft heute in der Medizin und der medizinischen Forschung der NS-Zeit eines der zentralen Paradigmen ihrer Epoche erkennen. Die Ausführungen legen eindrücklich dar, welche enormen Wider-stände und Aporien im Wege der Selbstaufklärung der bundesrepublikani-schen Gesellschaft über die Geschichte der NS-Medizin zu überwinden waren. Dabei wird zweierlei deutlich. Dies ist zum einen das hohe Maß, in dem Geschichtsschreibung und Literatur - so unterschiedlichen Registern beide Wissensproduzenten (Weissberg) auch angehören - aufeinander angewiesen waren und sind, um diese Selbstaufklärung historisch durchzusetzen und mit Nachhaltigkeit zu versehen. Und das ist zum anderen der unabweisbare Stellenwert, der dieser gesellschaftlichen Selbstvergewisserung über die NS-Medizin und ihre Verbrechen in jeder heutigen Debatte über Ethik in der Forschung, aber auch über Ethik der Forschung zukommt. Die Herausgeber danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft und des Instituts für die Geschichte und Ethik der Medizin der RWTH Aachen für ihren Beitrag zum Gelingen der Tagung, die diesen Band entscheidend vorbereiten half, dem Verein der Freunde und Förderer der RWTH Aachen, proRWTH!, sowie dem Forum Technik & Gesellschaft der RWTH für finanzielle Unterstützung. Sascha Tuchardt hat die Manuskripte für den Druck eingerichtet und redigiert. Unser besonderer Dank gilt aber allen Beiträgerinnen und Beiträgern, die mit ihrem Engagement die Tagung gestalteten und ihre Manuskripte in überarbeiteter Form für den Abdruck in diesem Band zur Verfügung ge-stellt haben.

Aachen, im August 2014

Die von Alexander Mitscherlich, Fred Mielke und Alice von Platen-Hallermund vorgenommene Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses Jürgen Peter

1946 bis 1947 fand in Nürnberg der Ärzteprozess vor dem Amerikani-schen Militärtribunal I statt. Mit den im NS-System begangenen Medizin-verbrechen befasste sich der Erste Amerikanische Militärgerichtshof in dem ersten so genannten Nachfolgeprozess des International Military Tribu-nal von insgesamt zwölf Prozessen vor amerikanischen Militärgerichten in Nürnberg, die auf der Grundlage des Gesetzes Nummer 10 des Alliierten Kontrollrats und der Verordnung Nummer 7 der amerikanischen Militär-regierung durchgeführt wurden und die auf den Internationalen Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher folgten. Vor deutschen Gerichten sind Vergehen gegen die Menschlichkeit und Medizinverbrechen nach dem alliierten Kontrollratsgesetz Nummer 10 oder nach dem Paragraphen 211 des Strafgesetzbuches verhandelt worden, so in den Frankfurter Euthanasieprozessen 1946/47 vor dem Frankfurter Landgericht (dem Kalmhof-, Idstein-, Eichberg- und Hadamarprozess), im Dresdner Euthanasieprozess und in zahlreichen weiteren Prozessen bis zum wohl letzten dieser Verfahren im Jahre 1986, dem Frankfurter Euthanasieprozess. Adolf Arndt, Staatsanwalt im so genannten Eichberg-Prozess gegen den ehemaligen Anstaltsleiter Friedrich Mennecke, dessen Stellvertreter Walter Schmidt und vier Schwestern und Pfleger, der vom 2. bis 21. Dezember 1946 vor dem Landgericht Frankfurt am Main verhandelt wurde, ist in seinem Vortrag auf dem Deutschen Juristentag in Konstanz im Juni 1947 auf die rechtliche Beurteilung der nationalsozialistischen Euthanasie eingegangen. Die nationalsozialistische Staatsmacht ist demnach keineswegs mit Recht gleichzusetzen, in Abwandlung des Grundsatzes von der "normativen Kraft des Faktischen", der besagt, dass "tatsächliche Macht zum Gesetz eines Staates wird", erklärt Arndt, dass "die Norm das Faktum, nicht das Faktum die Norm qualifiziert" und Hitlers Wille keineswegs "über die unmittelbare Verwirklichung seiner Ziele hinaus normierend wirkte" und die Bevölkerung nicht veranlasste "sich in gleicher Weise zu verhalten" oder die nationalsozialistische Rechtspraxis gar als rechtens zu akzeptieren. Hitlers rückdatierter Erlass, der "Geheimbefehl" vom 1. September 1939, ist demnach nicht normierend zu verstehen, auch nach den Maßstäben des im nationalsozialistischen Staat gültigen positiven Rechts. Außer der naturrechtlichen Widrigkeit des Euthanasie-Erlasses vom 1. September 1939 bedeutet seine Geheimhaltung, so Arndt, nicht nur ein "formelles Kriterium", sondern ist wie eine ganze Reihe von ähnlichen "Geheimgesetzen" ein Merkmal dafür, dass er nicht normierend wirken konnte und mit dem Erlass gegen weiter gültiges Recht verstoßen wurde. Radbruch räumt der Rechtssicherheit einen höheren Stellenwert als Arndt ein. In den ersten Nachkriegsjahren kam es zu einer Naturrechtsrenaissance, was sich in den Urteilen deutscher Richter in den alliierten Besatzungszonen aufzeigen lässt. Nach der "Radbruchschen Formel" kann Unrecht an den Widersprüchen zu den Menschenrechten erkannt und falsifiziert werden ohne ein Naturrecht und "überpositives Recht" zu postulieren. Die Auswahl der 23 Angeklagten vor dem Amerikanischen Militärge-richt I in Nürnberg erfolgte aufgrund der hierarchischen Stellung, die die Angeklagten im NS-Gesundheitssystem einnahmen, vom Chef des Sani-tätswesens der Waffen-SS, dem Chef des Wehrmachtssanitätswesens und dem Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe bis zu den Assistenzärzten des SS-Lazaretts Hohenlychen und zur Lagerärztin im Konzentrationslager Ravensbrück. Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses waren die Unterdruck- und Unterkühlungsversuche im Konzentrationslager Dachau, Meerwasserversuche an KZ-Häftlingen, Versuche über Fleckfieber- und Hepatitis-epidemica-Infektionen an KZ-Insassen, Sulfonamid-, Knochentransplantations-, Phlegmone- und Lostversuche, der Aufbau einer jüdischen Skelettsammlung von Schädeln von so genannten jüdisch-bolschewistischen Kommissaren der Roten Armee, die zu diesem Zweck ermordet wurden, erfolgte in Straßburg. Hans Joachim Lang hat mit seiner Studie Die Namen den Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren den Ermordeten ihre Identität, ihren Namen zurückgegeben. Eine sechs Mitglieder umfassende deutsche Ärztekommission unter Leitung von Alexander Mitscherlich beobachtete den Nürnberger Ärzte-prozess und erstattete Bericht. Zwei Mitglieder dieser Kommission, Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, veröffentlichten 1947 die Dokumentenbroschüre Das Diktat der Menschenverachtung. 1949 erschien von diesen beiden Autoren eine erweiterte Dokumentation, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, und 1960 eine Taschenbuchausgabe mit dem Titel Medizin ohne Menschlichkeit. Alexander Mitscherlich und Fred Mielke hatten in ihren Dokumentationen Auszüge des Prozessmaterials verwendet. Die vollständigen Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, die in englischer und französischer Sprache abgefasst sind, werden im Staatsarchiv Nürnberg, dem Bundesarchiv Koblenz, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin und in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen aufbewahrt und sie sind im Nationalarchiv in Washington D.C. zu finden. Eine Gesamtedition der Quellen des Nürnberger Ärzteprozesses in deutscher und englischer Sprache als Mikroficheausgabe wurde von der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts in Zusammenarbeit mit Klaus Dörner vorgelegt. In einem Begleitband werden von Angelika Ebbinghaus, Karl-Heinz Roth, Ulf Schmidt und Paul Weindling, neben Dokumenten zur Peripherie des Prozesses, vor allem auch die Hintergründe und Auswirkungen des Nürnberger Ärzteprozesses vorgestellt. Im Kontext zu dieser Mikrofiche-Edition ist 2001 von Angelika Ebbinghaus und Klaus Dörner der Band Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen herausgegeben worden. Die justitielle Auseinandersetzung mit der Dimension der Verbrechen der Deutschen im NS-System - die in ihrer Systematik in vielen Bereichen, so beispielsweise im NS-Euthanasiegeschehen, singulär blieben - führte zwangsläufig neben der Verurteilung konkreter Straftaten zu einem weiteren Ergebnis des Nürnberger Ärzteprozesses, zu dem Versuch, mit Hilfe eines an diesen Verbrechen orientierten Handlungsrahmens zukünftigen Gefährdungen der Nichtbeachtung der medizinischen Ethik zu begegnen, ja diesen ethischen Grundsätzen mit einem Nürnberger Ärztekodex eine internationale Grundlage zu verschaffen. Das Ärztegelöbnis der westdeutschen Ärztekammern von 1947, die späteren internationalen Deklarationen von Helsinki 1964 und die 1975 revidierte Fassung von Tokio, ferner das Genfer Arztgelöbnis sowie die für die Bundesrepublik Deutschland von der Bundesärztekammer gegebenen Empfehlungen an die Ärzte für die Durchführung wissenschaftlicher Versuche am Menschen und der postulierte "informed consent" basieren auf diesem medizinischen Kodex. Insofern war dieser erste Nachfolgeprozess des International Military Tribunal auch keine ausschließliche Angelegenheit eines amerikanischen Militärtribunals, bestand doch bei den Alliierten das in der Deklaration von Jalta anvisierte Ziel, "Nazismus und Militarismus" zu beseitigen, und in der unmittelbaren Nachkriegszeit war es der Konsens der Negation des NS-Staates und die Intention, nach zwei Weltkriegen zukünftig jede weitere deutsche kriegerische Expansions- und Kriegszielpolitik zu verhindern. Wenn auch die deskriptive Darstellung der Humanversuche und deren Hintergrund - die institutionellen Strukturen, die zivilen und militärischen Auftraggeber - in den Dokumentationen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke bestimmend ist, so sind es nicht alleine die Menschenversuche, die minutiös, akribisch geschildert werden. Bei der Auswahl der Dokumente, in den Vor- und Nachworten zu den Dokumentationen, werden auch die utilitaristische Zweckforschung Nazi-Deutschlands und die biologistische Ausrichtung der NS-Gesundheitspolitik angesprochen. Mitscherlich und Mielke arbeiten Interpretationsansätze heraus, die sich in Hinsicht auf den pejorativ geschilderten Anteil der naturwissenschaftlichen Medizin auf diese Deutungsmuster reduzieren und motivationsgeschichtliche Zu-sammenhänge ausblenden. Tätermotive, wie sie Alice von Platen in ihrer Schilderung der NS-Euthanasie vorgenommen hat, fehlen in den Doku-mentationsschriften von Mitscherlich und Mielke. Exemplarisch an der nationalsozialistischen Euthanasie und der "eliminatorischen Rassenhygi-ene" , wie sie Karl Heinrich Bauer 1926 genannt hat, lässt sich ein Ver-nichtungswille und eine Vernichtungsmentalität der Deutschen im NS-Staat deutlich machen. In der nationalsozialistischen Euthanasie, im Eu-thanasiegeschehen des Dritten Reiches erkennen Zygmunt Bauman und Klaus Dörner ein Projekt der Moderne. Ohne die Anwendung eines instrumentellen Rationalismus, ohne bürokratische Organisationsstruktu-ren und administrativ-technische Mittel, waren die Massenmorde im NS-System nicht zu verwirklichen. Diese Verbrechen sind nicht Ausdruck einer prämodernen Barbarei sondern der Moderne immanent, sie werden von ihr begünstigt, jedoch keineswegs determiniert. Die nationalsozialisti-sche Euthanasie und der Genozid an den europäischen Juden, an Roma und Sinti, die monistische Denkweise, die soziale Frage zu medikalisieren, eine leidensfreie Gesellschaft zu schaffen - in der Erbkranke, psychisch Kranke und geistig Behinderte mittels Zwangssterilisation und Euthanasie beseitigt werden - sind Symptome dieses "Modernisierungsprozesses". Über die Eradikation des Krankheitserregers hinaus hat die NS-Medizin nun auch eine dezidiert "exkludierende Funktion" : auch den Krank-heitsträger, Kranke zu bekämpfen und darüber hinaus einen volkswirt-schaftlichen Kosten-Nutzen-Effekt zu erzielen. Mit der Popularisierung von Sozialdarwinismus und Rassenhygiene durch Francis Galton, Herbert Spencer, Ernst Haeckel und Alfred Ploetz - Haeckel machte Sozi-aldarwinismus und Rassenhygiene in Deutschland mit seinen Schriften bekannt, so mit dem Buch Natürliche Schöpfungsgeschichte von 1868 und Houston Steward Chamberlain nannte ihn den "modernen Moses" - sind der Humanismus der Aufklärung und die Prinzipien der Französischen Revolution in Frage gestellt worden und ist eine szientistische Ausrichtung, eine Verwissenschaftlichung des Denkstils in den Traditionen der Aufklärung erfolgt. Die Einführung des Rassenbegriffs als Grundkategorie durch Alfred Ploetz, der Glaube an rassistische Standards und an eine pseudowissenschaftlich erwiesene Wertigkeit der menschlichen Rassen seit Eugen Fischers Rehobother Bastardstudien und die Forderung nach der Euthanasie spätestens seit Adolf Josts Schrift Das Recht auf den Tod (1895), sind auch die Folgen eben jenes wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus der Aufklärung, der, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung vermuten, den Nationalsozialismus erst möglich werden ließ. Die Evolutionstheorie war schon in der zweiten Hälfte des neunzehn-ten Jahrhunderts auch in den Sozialwissenschaften rezipiert worden, vor allem mittels der sozialdarwinistischen Lehre, die die "Auslese" und Des-zendenztheorie hervorhob. Über die Biologie, die biologistische An-schauung, ist in den 1920er und 1930er Jahren ein neuer Erkenntniswert vermittelt worden. Die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Medizin, die Reduktion der Heilkunde auf eine Naturwissenschaft einerseits und die Ideologie des nationalsozialistischen Staates andererseits, führten neben mentalitätsgeschichtlichen Gründen (so die "Ideologie der Härte") unter anderem zu der Widerstandslosigkeit im Dritten Reich, die durch die "Personalunion von Arzt, Forscher und Soldat" begründet werden kann. Alexander Mitscherlich und Fred Mielke vermerkten 1949 in Wissenschaft ohne Menschlichkeit, dass "auf dem Wege über die soldatische Pflichterfüllung" hier "die Usurpation des Arzttums und der humanen Verpflichtung" erfolgt ist. Es sind die Gefahren einer Technifizierung, "Versachlichung" und Entpersonalisierung der Medizin, die Nachkriegsautoren immer wieder die Verbrechen der nationalsozialistischen Medizin als ein drohendes Menetekel für eine zukünftige Entwicklung, die den Patienten nur als "Werkstück" versteht, beschwören lassen. Die Trennung in Grundlagenforschung und angewandte Forschung genügen den modernen, sozialen und politischen Auswirkungen nicht mehr. Diejenigen, die in der NS-Zeit wissenschaftlich einwandfreie und zudem ethisch gerechtfertigte Versuche unternahmen, leisteten auch damit der nationalsozialistischen Führung, dem "Krieg der nationalsozialistischen Führer" Vorschub. Die doppelte Krise des Arzttums war erklärbar aus einer "Sozialisierung der Ärzteschaft" und der technischen Armierung der Heilkunde zu einer spezialisierten Organmedizin. Der Arzt wird nicht nur "technischer im Denken und Handeln", die "subjektvergessende Forschung" führt "trotz aller groß-artigen technischen Leistungen" der modernen Medizin zur Krise der Me-dizin. Die Technisierung der naturwissenschaftlichen Medizin bedeutete für die Pioniere der psychosomatischen Medizin - für Georg Groddeck, ebenso wie für Viktor von Weizsäcker und Alexander Mitscherlich - eine Entfremdung für den Patienten. Die im neunzehnten Jahrhundert einseitig auf Organvorgänge bezogene Medizin hatte sich demnach nicht mehr am Subjekt des Patienten orientiert, sondern sie war allmählich auf eine naturwissenschaftliche Medizin reduziert worden und wollte Helfer der Menschheit sein. Das Eindringen einer biologistischen Ideologie durch rassenhygienisch-eugenische Maßnahmen in die ärztliche Praxis bringt ihrerseits eine Selbstentfremdung des Arztes mit sich. Der Technisierung der naturwissenschaftlichen Medizin um die Jahrhun-dertwende folgte eine daraus resultierende Entfremdung zwischen Arzt und Patient. Dabei war die im neunzehnten Jahrhundert einseitig auf die Organvorgänge ausgerichtete Medizin, die die geistig-seelischen Vorgänge weitgehend ausblendete und nicht berücksichtigte, sich zudem nicht an dem Subjekt des einzelnen kranken Menschen orientierte, sondern Helfer der Menschheit sein wollte, kausal mitverantwortlich für die späteren Verbrechen der nationalsozialistischen Medizin, was von Viktor von Weizsäcker und Alexander Mitscherlich nach 1945 immer wieder betont und herausgearbeitet worden ist. Gleichzeitig war die Verwandlung von einem Subjekt in ein Objekt vorgenommen worden, der Mensch in eine Sache verwandelt worden. Die Krise der modernen Medizin, die allmählich auf eine naturwissenschaftliche Medizin reduziert worden war, hat zusammen mit der Sonderstellung der SS im NS-Staat die Humanexperimente im Dritten Reich erst ermöglicht. Karl Brandt sprach vom "übergeordneten staatlichen Interesse" und bekannte, dass sich der Arzt diesem Interesse zu unterwerfen habe. Mit dem Euthanasiege-schehen im NS-Staat, den Tötungsaktionen, die psychiatrische und neurologische Patienten betrafen, hatte die deutsche Psychiatrie, die sich als "Hüter" der Abgrenzung zwischen psychisch Kranken und der Gesellschaft verstand, ihren "Abgrund" erreicht.

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
343 Seiten
ISBN:
9783593432632
Erschienen:
September 2015
Verlag:
Campus Verlag GmbH
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Rezension schreiben

Diesen Artikel im Shop kaufen