Buch

Ab in die Dertschi! - Ralph Caspers, Ulrich Hoffmann

Ab in die Dertschi!

von Ralph Caspers Ulrich Hoffmann

Hallo und herzlich willkommen!

Moment, ich muss das noch kurz wegräumen. Setz dich doch schon mal. Willst du was trinken? Nein, ich kann jetzt nicht. Schön, dass du da bist. Ja, ich komme gleich. Aber nicht sofort. Einen Moment noch. Geht's euch gut? Das freut mich. Möchtest du etwas trinken? Ich setz mich gleich zu dir. Ich muss nur noch … ja, ich komme, ich komme. Warte mal kurz. Ich bin gleich wieder da. Mach's dir bequem. Willst du etwas trinken? Ist ja gut, ich komme ja schon! Erwachsene Freunde zu treffen ist, wenn man Kinder im Haus hat, eigentlich unmöglich. Andererseits aber auch wichtiger denn je. Und wenn man es dann tut, sitzt man zusammen und erzählt sich von den eigenen Kindern oder gibt Ratschläge zu denen des anderen … Manchmal verliert man dabei ganz aus den Augen, wie schön es sein kann, Kinder zu haben - und manchmal macht man es einander auch erst wieder bewusst. Wenn Stolz in der eigenen Stimme schwingt. Oder wenn wir bei der Erinnerung an ein Erlebnis lächeln. Nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Augen. Wenn wir vor dem Zubettgehen noch ins Kinderzimmer schleichen und einen Moment ganz ruhig dastehen, mit Glückstränen in den Augen. Weil das Leben so ist, wie es ist. Weil wir morgen wieder zu früh aufstehen müssen, um vor dem Kindergarten oder der Schule noch den Blauen Elefanten zu gucken. Weil wir wieder eine Chance darauf haben, das beste Pausenbrot aller Zeiten in den Ranzen zu packen. Weil wir jetzt schon wissen, dass es irgendwann keinen Kuss zum Abschied mehr gibt - aber noch ist es zum Glück nicht so weit. Wir, Ralph Caspers und Ulrich Hoffmann, haben sechs Kinder, wenn auch nicht gemeinsam. Wir arbeiten seit mehreren Jahren zusammen. Und während der dafür notwendigen Telefonate kamen die Kinder immer mal wieder ins Zimmer, egal ob gerade Arbeits- oder Schlafenszeit war. Es ist bei uns wie in allen anderen Familien: Die Kinder funktionieren nie nach Plan. Und das ist eigentlich eine der Eigenschaften, die sie so wundervoll macht. Sie geben uns die Gelegenheit, auf die Unwägbarkeiten des Lebens nicht gereizt und ungeduldig zu reagieren, sondern liebevoll und gelassen. Elternsein ist ein bisschen in Verruf geraten. Eltern, die nicht jederzeit gestresst sind, werden schief angesehen, als gäben sie sich nicht genug Mühe. Denn viele mikromanagen das Leben ihrer Kinder und jammern dann darüber, dass sie so viel Arbeit mit dem Nachwuchs haben. Wir stecken beide viel Zeit in das Familienleben. Manchmal zufällig und unbeabsichtigt, aber oft auch bewusst, geplant und notfalls auch wider den eigenen Schweinehund. Inzwischen wissen wohl alle Eltern, dass quality time den Kindern gut tut. Und dass diese magische Superzeit nicht der 5-Sterne-Urlaub in der Türkei ist oder Tiefschneefahren in Kanada, sondern dass Nähe vor allem im Alltag stattfindet. Aber nachdem Kinder viele Jahrhunderte lang nur nützlich waren, sind sie inzwischen zu Accessoires aufgestiegen. Die Gleichung scheint zu sein: Je besser die Noten meines Kindes, je größer die Medaille vom Sportwettbewerb, je mehr außerschulische Aktivitäten, desto besser sind die Eltern. Den Großen zuliebe dreht sich alles um die Kleinen. Häufig wird dabei vergessen, wie viel Spaß Kinder machen können. Manche Eltern (und uns ist das natürlich auch schon passiert) übersehen vor lauter Alltagserschöpfung ganz, wie großartig es sein kann, mit Kindern zu leben. Wie bereichernd. Dass man über den eigenen Tellerrand hinausschauen und selbst für kurze Zeit wieder Kind werden darf. Wir wollen davon erzählen, was DIE ELTERN davon haben, zelten zu gehen, eine Rakete steigen zu lassen, einen Schneemann zu bauen oder auch einen Nachmittag zusammen Video zu spielen … Ideen für Zeit mit Kindern gibt es reichlich. Man muss nur egoistisch genug sein, sie wahrzumachen.

Viel Spaß, Ralph Caspers und Ulrich Hoffmann

1. Ab in die Dertschi!

Mit vier Jahren kam mein ältestes Kind einmal vom Kindergarten nach Hause und erzählte von dem Grauen, das es dort vorgefunden hatte. Die Erzieherinnen hätten nur rumgebrüllt, es wäre alles verboten gewesen und das Essen hätte so schlecht geschmeckt, dass sich alle Kinder übergeben mussten. Ach ja, und außerdem hätten sie den ganzen Tag "verkehrte Welt" gespielt. Ich war geschockt. Interessanterweise war die Laune unseres Vierjährigen trotz der üblen Erlebnisse ausgezeichnet: "Haben wir Kekse?" "Äh, Moment. Ich bin gerade noch etwas erschüttert. Was war denn da heute los im Kindergarten?" "Verkehrte Welt, Papa. Hörst du nicht zu?" Die Frage "Was ist denn verkehrte Welt?" wurde mit einer Kombination aus Augenrollen und Zungerausstrecken quittiert - der höchsten Form von Geringschätzung, die es in unserer Familie bis dato gibt. Und gleichzeitig ist es die Geste der Wahl, wenn man sagen möchte: "Das kann jetzt echt nicht wahr sein. Wie alt bist du? Das letzte Jahrtausend hat angerufen und möchte dich gern zurückhaben. Du weißt ja gar nichts!" "Kennst du das nicht? Verkehrte Welt ist, wenn alles verkehrt rum ist. Gut ist schlecht, langweilig ist toll, rechts ist links." Er grinste. Während ich diesen Satz meines Sohnes innerlich fortsetzte mit "Krieg ist Frieden, Unwissenheit ist Stärke" und mir überlegte, warum sich Vierjährige im Kindergarten schon mit George Orwells 1984 beschäftigten, musste ich wohl einen ziemlich abwesenden Gesichtsausdruck gehabt haben. "Papa? Papa?!" "Äh, ach, Ironie! Doch, das kenn ich. Dann bin ich ja beruhigt", sagte ich und freute mich insgeheim schon auf die nächste Diskussion mit den Leuten, die immer behaupten, Kinder könnten mit dieser beliebten rhetorischen Figur noch überhaupt nichts anfangen. Ha! Das war ein toller Moment. Zu erleben, dass auch Kinder Spaß daran haben, mit Sprache Spaß zu haben. Ich gehöre ja zu der Generation, die das Schreiben mit Uli Fehlerteufel gelernt hat. Wenn ich mich richtig erinnere, konnte ich am Ende der ersten Klasse sehr zuverlässig "ei", "eis", "sie", "nie" und "essen" schreiben. Die Schreibübungen im ersten Schuljahr bestanden nämlich in erster Linie daraus, möglichst ordentlich Schlaufen und Kurven, Aufschwünge und Abschwünge in den unterschiedlichsten Kombinationen aufs Papier zu bringen. Ja, das hatte schon was von Eiskunstlauf. Vor allem wegen des sehr eisigen Umgangs mit Sprache. Und, ja, man kann tatsächlich aus den daraus entstehenden Wörtern sinnvolle Sätze bilden. Dennoch: Die Einsatzgebiete von "Sie, Ei! Eis nie essen!" sind doch ziemlich begrenzt. Unsere Kinder dagegen haben in der Schule erst einmal gelernt, richtig hinzuhören. Und dann nach Gehör zu schreiben. Das regt die Fantasie auf eine ganz andere Art an, als wenn man nur über Eier und Eis sinnieren kann. Das Heraushören der Buchstaben ist allerdings nicht immer ganz einfach. Genauso wenig, wie die Laute dann den richtigen Symbolen zuzuordnen und diese Symbole, auch bekannt als Buchstaben, schließlich aufzuschreiben. Das Entschlüsseln dieser ersten Schreibübungen erfordert oft einiges an Detektivarbeit, denn Rechtschreibung ist im ersten Grundschuljahr noch zweitrangig. Das Schöne daran ist aber, dass beim genauen Zuhören auch regelmäßig Wörter zum Vorschein kommen, die von uns Erwachsenen nicht erkannt wurden, weil wir sie schon so oft gehört und gelesen haben. Wenn zum Beispiel die Vögel bei Aschenputtel riefen "Ruckediku, Blut ist im Schuh", dann machten die Kinder daraus einen Namen. Den einzig möglichen Namen für die Stoffkuh, die damals bei uns sehr beliebt war: Ruckel - Ruckel, die Kuh! Und, ja, wir hatten auch eine Stoffkatze zu Hause. Die wurde Rubbel genannt - Rubbel, die Katz. Lustig sind auch die vielen neuen Wörter, die es vorher noch gar nicht gab. In den Sommerferien waren wir in Italien und wurden tagein, tagaus mit "ciao" und "arrivederci" beschallt. Die Kinder wollten abends immer lange aufbleiben, und doch gab es irgendwann einen Zeitpunkt, an dem wir Eltern sagten: "So, ihr müsst jetzt ab ins Bett, arrivederci!". Auch dieses Wort versuchten die Kinder in ihren Sprachschatz aufzunehmen. Doch so genau sie auch zuhörten, sie landeten nicht bei "arrivederci", sondern bei "ab in die Dertschi". Wo auch immer die Dertschi liegen mag. Dertschi wurde bei uns jedenfalls zum Inbegriff all jener Orte, die weit weg sind. Wenn es irgendwo hingeht, wo noch keiner von uns war, ist dieser Ort die Dertschi, unbekanntes Land. Wie genau man da hinkommt, keine Ahnung. Was es dort gibt? Bestimmt Lebriges. Denn im oben schon erwähnten Italienurlaub wohnten wir in einem Haus, zu dem ein großer Garten gehörte, mit vielen Pflanzen und einer Menge Natursteinmauern. Und an genau so einer Mauer entdeckte meine Tochter eines Nachmittags etwas Unvorstellbares. Aufgeregt kam sie zu mir gelaufen und brüllte mir ins Gesicht: "ICH HAB WAS LEBRIGES GESEHEN!" "Was Lebriges? Was meinst du damit?" "Was Lebriges. Das hat sich bewegt. Da, an der Mauer." Und dann zog sie mich zu der Stelle, an der sich die Geckos immer noch in der Sonne wärmten. "Ach, du meinst, was ›Lebendiges‹." "Ja, lebrig." Lebrig. Komisches Wort. Und ich fragte mich den ganzen Tag, wie sie darauf kam. Mir fiel keine Erklärung ein. Bis zum Abend­essen. Es gab Penne all'arrabbiata, und ich fragte: "Na, wie schmeckt's euch?" Allgemeines Nicken und Grunzen, und mein Sohn sagte: "Schmeckt ein bisschen nach Messer." "Wie? Was meinst du? Nach Messer?" Ich hatte nichts Metal­lisches geschmeckt, sondern nur eine sehr würzige, leichte Schärfe auf der Zunge. "Na, es schmeckt wie Messer. Sehr scharf." "Ach so!" Die Verbindung aus "scharf" und "Messer" ließ bei mir endlich den Groschen fallen. Man muss nur logisch denken können, dann wird auch klar, wie meine Tochter auf "lebrig" kam: Aus "kleben" bilden wir "klebrig" - da ist es nur konsequent, wenn aus "leben" "lebrig" wird. Und nicht "lebendig". Als wir aus dem Urlaub wieder zurück waren und der Alltag uns wieder fest im Griff hatte, entdeckten meine Kinder bald, dass das Schreiben auch ein prima Ventil ist, um seinen Ärger über die Welt - inklusive den Vater - abzulassen. Ich hatte gerade ein kleines Spätnachmittagsschläfchen gemacht und überlegte, was ich eigentlich noch erledigen wollte, da sah ich einen schmalen linierten Zettel neben dem Telefon liegen. Nach vielen leeren Zeilen des Wartens stand auf den unteren fünf Linien in empörter Kinderschrift: "typisch Papa/sagt er kommt gleich/schaut man nach/schnarch schnarch/da schläft er". Da fiel es mir wieder ein: Ich wollte eigentlich mit meinem Sohn im Garten an seinem Skateboard rumschrauben. Effektiver kann man kein schlechtes Gewissen gemacht bekommen. Und das von jemandem, der gerade erst mit der zweiten Klasse angefangen hatte. Es war nicht der letzte Zettel mit einer eindeutigen Nachricht. Wobei, manchmal sind die Nachrichten auf eine ganz eigene Art auch zweideutig. Einmal zog unsere Tochter beleidigt ab und wollte uns nicht mehr sehen. Das Schild, das sie an die Kinderzimmertür klebte, machte das mehr als deutlich. Darauf stand in ordentlicher Erstklässlerschrift: "Ale mösen drausen bleiben." So konnte ich mich in der ersten Klasse definitiv noch nicht ausdrücken.

2. Endhaltestelle

Das erste Mal passierte aus Versehen. Ich hatte meinen Sohn mit dem Bus vom Kindergarten abgeholt. Wir saßen ganz hinten auf der breiten Bank, es war irgendwann am Nachmittag - der Bus fast menschenleer. Ich muss für einen winzigen Augenblick eingenickt sein. Und dann schreckte ich auf, weil jemand mich an der Schulter rüttelte und eine gutmütige Stimme sagte: "Endhaltestelle. Sie müssen aussteigen." Kennen Sie das, wenn man immer nur müde ist, müdemüdemüde? Obwohl gar nichts Besonderes zu tun ist, außer zu leben? Mit Kindern? Viele befreundete Eltern berichten mir davon, es wird in aktuellen Büchern beklagt, aber wenn ich meine eigenen Eltern danach frage, können sie sich nicht daran erinnern. Verdrängt man die ständige Erschöpfung des Elternseins wie den Schmerz der Geburt (sonst würde ja auch niemand mehr als ein Einzelkind zur Welt bringen)? Oder war das Leben früher anders, einfacher, schliefen die Kinder ruhiger und stellten weniger Fragen? Schlimmer noch: Haben unsere Eltern möglicherweise etwas richtig gemacht, und wir machen es falsch? Das wäre nicht nur dumm, sondern auch die ultimative Niederlage. Wie auch immer, ich hatte für einen winzigen Moment die Augen geschlossen, und nun waren wir an der Endhaltestelle angekommen. Mein Sohn kniete neben mir und drückte seine Nase an der Heckscheibe platt. Alle unsere Sachen waren noch da, Jacke, Rucksack, Kindergartentasche. Aber, wo waren wir? Wir stiegen aus und sahen uns um, die Dämmerung setzte ein. Großstadt kann toll sein, aber in der Großstadt nicht zu wissen, wo man ist, ist besorgniserregend. Glücklicherweise war es keine von diesen "Und gleich geht der Horrorfilm richtig los"-Endhaltestellen irgendwo in der Pampa: Ein Haltestellenschild und sehr viel Wald, sonst nichts … Wir befanden uns auf einem dieser seelenlosen Busbahnhöfe, in deren Mitte ein funzeliger Kiosk das einzige Anzeichen von Leben ist. Ich schaute mich um. Die Bezeichnung der Station kannte ich von der Anzeigetafel des Busses, den wir immer nahmen. Aber ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wo das eigentlich war, wie man dorthin kam - und vor allem, wie wieder weg. Die naheliegendste Option fiel mir erst erstaunlich spät ein (erwähnte ich bereits, dass ich damals latent übermüdet durch die Welt stolperte?): gleiche Buslinie, andere Richtung. Aber der Bus war natürlich gerade losgefahren - mein Denkprozess hatte so lange gedauert, dass wir den Rücklichtern nur noch traurig nachwinken konnten. Die nächste Abfahrt war in 20 Minuten. Das geht ja noch, sagte ich mir und dachte zurück an mein jugendliches Warten auf den Nachtbus, der natürlich auch immer gerade weg war. Da schaffte man ein ganzes Album auf dem Walkman. Oder der Fahrer hupte netterweise, weil man in der Wartezeit die gesamte Aufmerksamkeit der Freundin gewidmet hatte. Zwischen den Fahrplänen hing auch ein Stadtplan, und ich versuchte zu ermitteln, ob es noch einen anderen, schnelleren Weg nach Hause gäbe. Mit ein paar Mal Umsteigen wahrscheinlich schon, aber es schien mühsam. Geduldig hatte mein Sohn neben mir gewartet. Jetzt erst fragte er: "Wo sind wir hier?" Ich empörte mich: "Wieso hast du mich eigentlich nicht geweckt? Du kennst doch unsere Haltestelle!" Er antwortete mit leuchtenden Augen: "Aber es war gerade so spannend!" Und so entstand eine neue Freizeitbeschäftigung, die ebenso bizarr wie informativ und preiswert ist: Wir fahren bis zur Endhaltestelle. Andere Familien machen Stadtrundfahrten in der Fremde. Wir fahren mit dem öffentlichen Nahverkehr durch unsere Nachbarstadtteile. Der halbe Spaß ist dabei, sich möglichst nicht gut vorzubereiten. Natürlich gibt es in jeder Stadt Buslinien, die durch besonders ansehnliche Gegenden fahren, die tolle Ausblicke bieten und an deren finalem Stopp die beste Eisdiele oder Currywurstbude der City zu finden ist. Bei uns gilt es, genau das Gegenteil zu entdecken: die unbekannten Ecken, die ganz normalen Viertel, die Stiefkinder der Stadtplanung. Die Gewerbegebiete, die Büromeilen, die endlos langwei­ligen Vororte und manchmal natürlich auch Straßenzüge, bei denen man sich ganz einfach freut, dort nicht wohnen zu müssen. Auf diesen Reisen ist der Zufall der beste Helfer. Wir gehen zu unserer Bushaltestelle und steigen einfach in die Linie, die als Nächstes fährt. Fertig. Wenn dort nur eine Linie hält oder man schon alle durch hat, empfiehlt sich ein Umzug oder notfalls der Start ab dem nächstgrößeren Knotenpunkt. Aber auch jede andere Form der willkürlichen Auswahl ist möglich: würfeln, losen, mit geschlossenen Augen im Kreis drehen. Dabei sind die Ausflüge auf ein Elternteil und ein Kind beschränkt. Einmal sind wir alle zusammen gefahren, da blieb vor lauter Interaktion keine Zeit mehr zum Gucken. So fahren wir also mal hierhin, mal dorthin, schauen aus dem Fenster, zeigen einander Dinge, Bauten, Menschen. "So ein Haus möchte ich haben, wenn ich groß bin", "Guck mal, der Mops", "Der Baum sieht aus wie eine Rakete", "Warum kommt so dunkler Rauch aus den Schornsteinen?" Einmal fuhren wir am AKW vorbei, da mussten wir herausfinden, warum die Reaktoren so komisch geformt sind, und ich konnte ganz nebenbei einfließen lassen, dass wir schon seit Jahren Ökostrom beziehen und warum. Daraus ergab sich eine faszinierende moralisch-physikalische Diskussion: Der gesamte Strom kommt ja aus einem Stromnetz. Das heißt, wir kriegen gar nicht die Wasser-, Solar- oder Windenergie, für die wir bezahlen. Sondern einfach "irgendwelchen" Strom. Klebt an dem jetzt - wie die unmessbaren Heilkräfte der unendlich verdünnten homöopathischen Heilmittel - seine mehr oder weniger dubiose Herkunft? Oder ist Strom gleich Strom? Physikalisch gesehen: ja. Moralisch: nein. Behaupte ich. Aber kann Strom überhaupt moralisch sein? Auf dieser Fahrt haben wir nicht mehr viel gesehen, aber das Kind hat mittlerweile Philosophie als Wahlpflichtfach. Passt. Viele Gegenden, die den Kindern neu sind, kennen wir Eltern natürlich schon. "Da habe ich mal gewohnt - mein erstes WG-Zimmer im Studium" führt sofort zu vielen Fragen, mit wem und warum und wie es eigentlich so ist in einer WG … echt, ihr hattet keine Geschirrspülmaschine? Gab's damals wenigstens schon Fernsehen? In besonders reichen oder besonders heruntergekommenen Stadtteilen kleben wir beide an den Fenstern. Hier gibt es außergewöhnlich viel zu sehen. Im einen Fall alles von architektonischem Wahnsinn bis zu wundervollen Hausklassikern. Im anderen Fall eine bunte Mischung aus wildem Wohnen und Leben. Auffällig ist, dass in den wohlsituierten Gegenden zwar eine Handvoll Autos vor den Villen menschliche Anwesenheit signalisiert, die Straßen und Bürgersteige aber vollkommen leer sind. Wo die Fenster aus ungeklärten Gründen von innen mit Plastiktüten verklebt sind und drei Kampfhunde als Hobby gelten, herrscht ein buntes Treiben und die Leute sitzen hier keineswegs vereinsamt drinnen vor den Privatsendern. Großstadtexpeditionen: Unterwegs in unserem ganz persönlichen Wimmelbuch. Die besten Plätze sind natürlich immer auf der langen Bank ganz hinten, auf der alles begann. Die beste Zeit ist der späte Vormittag (zum Beispiel, wenn wegen Kollegiumsausflug die Schule ausfällt) oder der frühe Nachmittag. Hochsommer- und Regentage sind ungeeignet. Je länger die Reise geht, desto leerer wird der Bus. Wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat, ist es toll: nur wir und der Fahrer! Aber warum immer bis zur Endhaltestelle? Warum nicht nur ein paar Stationen? Aus Respekt vor der Tradition - und weil das Beste meist erst zum Schluss passiert. Einmal stieg beispielsweise ein Mädchen ein, das offensichtlich zum ersten Mal allein mit dem Bus fuhr und an jeder Haltestelle panisch nach vorn zum Fahrer lief, um zu fragen, ob sie hier aussteigen müsse. Oder unsere Reise durch ein dermaßen heruntergekommenes Viertel am Stadtrand, wo Matratzen auf dem Gehsteig lagen - auf denen mitten am Tag Leute schliefen. Dazu gab es keine Fragen und auch nichts zu sagen: Ich hätte nicht gewusst, dass es derartige Zustände auch in unserer Stadt gibt, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte. Zugegeben, ich war froh, dass wir noch ein paar Stationen vor uns hatten. Mit der Zeit habe ich auch entdeckt, dass Endhaltestellen zudem ihren ganz eigenen Zauber haben. Sie sind Zweckbauten, oft in der unwilligen Zusammenarbeit zweier regionaler Nahverkehrsverbände ausgehandelt - also doppelt schlecht geplant. Föderalismus bei der Arbeit. Einmal mussten wir durch eine absurd lange Unterführung ohne Fußgängerweg, um die Toilette zu erreichen. Außer der war dort dann sonst nichts. Warum das kleine Häuschen nicht auf der Busbahnhofseite stehen konnte, blieb unklar. Vorteil: Außer uns hatte offenbar noch nie jemand den Weg gefunden, es war picobello sauber! Selbst im Urlaub gehen wir manchmal auf große Fahrt. Dabei ist ein bisschen Recherche allerdings unerlässlich - denn in New York oder auch nur in Freital gibt es Ecken, in denen man dann doch lieber nicht stranden möchte. So sitzen wir da und zeigen einander die Welt. Straße für Straße. Wir lesen die Ladenschilder, spekulieren, was man dort wohl kaufen kann. Wir schauen, was die Menschen im Gehen essen, wie eilig sie es haben. Und das Spannendste an der ganzen Sache ist eigentlich, egal ob Köln, Hamburg oder Paris: An der nächsten Ecke ist schon wieder alles anders! Wenn man das Leben (oder die Fahrt) nicht verschläft.

3. Schlemmertag

Hin und wieder verbringen unsere Kinder das Wochenende bei ihrer Oma. Das machen sie richtig gerne. Denn dort können sie nach Herzenslust fernsehen und Süßigkeiten essen, Computer spielen und Chips futtern, ohne dass irgendjemand zu ihnen sagen würde: "Ihr müsst jetzt auch mal rausgehen." Oder: "Habt ihr eigentlich schon euer Zimmer aufgeräumt?" Oder was uns Eltern halt sonst noch Schikanöses einfällt. Und ehrlich gesagt: Wir mögen diese Wochenenden auch ganz gerne - und zwar aus genau denselben Gründen wie unsere Kinder. Denn wenn der Nachwuchs nicht da ist, können auch wir nach Herzenslust fernsehen und Süßigkeiten essen, Computer spielen und Chips futtern, und wir gehen auch nicht raus und räumen auch nicht auf und hängen einfach nur so rum. Und eines Sonntags, als wir einfach nur so rumhingen, während unsere Kinder bei ihrer Oma waren, fiel uns auf: Moment mal, die Kleinen machen gerade genau das Gleiche wie wir. Die essen Süßigkeiten und Chips, sehen fern und spielen Computer. Eigentlich könnten wir das doch auch zusammen machen! Und so erblickte der Schlemmertag das Licht der Welt. Schlemmertage werden bei uns immer sehr kurzfristig und überraschend festgelegt, aber man kann sie natürlich auch länger im Voraus planen. Ein Schlemmertag beginnt mit dem Einkauf. Meistens gehen wir an einem Freitag zusammen in den Supermarkt unseres Vertrauens und kaufen so ein, als gäbe es kein elterliches Gewissen. Im Einkaufswagen finden sich dann Tiefkühlpizza, Tiefkühlpommes, Tiefkühltorte. Chips mit Paprikageschmack, Chips mit Essiggeschmack, Chips mit Pommes-Currywurst-Geschmack. Schokolade mit Nüssen, Schokolade mit Erdbeerjoghurt, Schokolade mit salzigen Crackern. Saure Pommes, saure Pasta, klassische Gummibärchen. Butterkekse, Schokokekse, Butterschokokekse. Eben alles, was man auf der Einkaufsliste eines seriösen Ökotrophologen niemals finden würde. Auffällig bei diesen Einkäufen sind zwei Dinge. Erstens, sich ungesund zu ernähren ist viel teurer als sich normal zu ernähren. Zweitens, Kinder-Schreiattacken im Supermarkt finden nur noch bei anderen Familien statt - vor allem, wenn deren Kinder sehen, was unsere Kinder alles einpacken dürfen. Und wir lachen dabei auch noch. Man muss sehr stark sein, um den fassungslosen Blicken der anderen Eltern standzuhalten. Ach, Quatsch, was schreib ich! Die Reaktionen der anderen Eltern machen am meisten Spaß! Zurück zu Hause gibt es hin und wieder Überredungsversuche, den Schlemmertag doch jetzt sofort schon anzufangen, aber darauf lassen wir uns in der Regel nicht ein. Stattdessen genießen wir - ja, schließlich auch die Kinder - dieses Weihnachtsgefühl kurz vor der Bescherung. Alle wissen: Morgen, Kinder, wird's was geben. Und vor lauter Vorfreude ist das Abendessen und Zubettgehen an solchen Tagen unglaublich friedlich und harmonisch. Am Schlemmertagmorgen macht der Erste, der wach ist, den Ofen an und legt die Aufbackbrötchen rein. Der Duft, der dann durch die Wohnung zieht, ist der beste Wecker, den man sich vorstellen kann. Warme Brötchen mit Nussnougatcreme und ein Kakao mit Sahnehaube dazu sind der einzig wahre Weg, einen Schlemmertag zu beginnen. Zumindest, wenn man, wie wir, auf Süßes steht. Dann legt sich eine zuckrige Stille über das Haus und alle verkriechen sich wieder in ihre Zimmer. Es wird noch die eine oder andere Runde geschlafen. Es wird gelesen, Hörspiele gehört oder auch Computer gespielt. Jedenfalls passiert nicht viel, und alle genießen das. Gegen Mittag sind dann wieder die ersten Stimmen in der Küche zu hören. Der Ofen wird erneut eingeschaltet und die Tiefkühlpizza heißgemacht. Das Mittagessen sorgt für eine leichte Schwere, die sich vor allem darin äußert, dass alle am Tisch sitzen bleiben - vollgefuttert und bewegungsgehemmt. Das ist meistens der Zeitpunkt, an dem wir dann gemeinsam überlegen, wie der Rest des Tages verbracht werden soll.

Rezensionen zu diesem Buch

Das Leben mit Kindern aus der Sicht von zwei Vätern

"Ab in die Dertschi" ist ein Buch mit 33 Geschichten direkt aus den Leben mit Kindern bzw. Teenagern gegriffen.

Der immer spannende und abwechslungsreiche Alltag mit Kindern werden in diesem Buch aus der Sicht von zwei Vätern erzählt.
Dem Autorenteam ist gelungen mich zum lachen, nachdenken und auch zum nachmachen zu animieren.

Ich habe mich beim Lesen sehr wohl gefühlt und konnte einige Situationen in diesem handlichen Buch gut nachvollziehen.
Der Schreibstil war...

Weiterlesen

Weitere Infos

Art:
eBook
Sprache:
deutsch
Umfang:
230 Seiten
ISBN:
9783593433578
Erschienen:
Februar 2016
Verlag:
Campus Verlag GmbH
0
Noch keine Bewertungen vorhanden

Rezension schreiben

Diesen Artikel im Shop kaufen

Das Buch befindet sich in 3 Regalen.

Dieses Buch lesen gerade: