Rezension

3,5*: Kreativer dystopischer Reihen-Auftakt mit einer tollen Grundidee, aber auch Schwächen (spannungsarm, vorhersehbar, Luft nach oben)!

Vortex - Der Tag, an dem die Welt zerriss - Anna Benning

Vortex - Der Tag, an dem die Welt zerriss
von Anna Benning

~ Mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ hat Anna Benning einen Jugendroman mit vielen Stärken, aber leider auch einigen Schwächen geschrieben. Ich mochte den flüssigen, anschaulichen und altersgerechten Schreibstil der Autorin. Auch die kreative, erfrischende Grundidee, das überzeugende Worldbuilding, die dichte Atmosphäre und das Ende, das neugierig auf die Fortsetzung macht, haben mir sehr gut gefallen! Themen wie Erwachsenwerden, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und großteils sympathisch, nur manche bleiben blass. Elaine mochte ich als starke, ehrgeizige und mutige Protagonistin, auch wenn sie noch etwas dreidimensionaler sein hätte können und wenn mich ihre Naivität in manchen Momenten genervt hat. Zweigespalten lassen mich die Liebesgeschichte und die feministische Analyse zurück – manche Dinge sind hier gut, andere eher weniger gut gelungen (mehr dazu in meiner Rezension). Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten: einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte, die Verwendung von Klischees und bekannten Bausteinen und der Mangel an Spannung und Tempo. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Reihenauftakt abgeliefert, der für mich aber nicht mit „Weltklasse“-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ vergleichbar ist. Vielleicht kann sich die Geschichte ja im zweiten Band noch steigern – ob ich ihn lesen werde, weiß ich noch nicht. Aber: Auch wenn mich das Jugendbuch nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte, solltet ihr Anna Bennings faszinierender dystopischer Zukunft auf jeden Fall eine Chance geben – sonst verpasst ihr möglicherweise euer nächstes Lieblingsbuch! ~

* Die Rezension enthält leichte Spoiler, vor denen aber im Text (in der Überschrift) noch einmal gewarnt wird! *

Inhalt

Im Jahre 2099 in einer dystopischen Zukunft:  Ein großes Ereignis hat die ganze Welt verändert. Nun gibt es Vortexe,  gefährliche Portale, mit denen man an andere Orte reisen kann, und Splittermenschen, die mit einem der vier Elemente verschmolzen sind und dadurch besondere Fähigkeiten besitzen. VortexläuferInnen beschützen die Menschen, indem sie diese Wesen einfangen und in eine der Zonen bringen, wo diese in Frieden leben können. Elaine will aus persönlichen Gründen eine Läuferin werden und ist bereit, dafür alles zu geben. Doch dazu muss sie zuerst die letzte Prüfung ihrer Ausbildung bestehen: das große Vortex-Rennen als eine der ersten 10 abschließen. Und dann geschieht etwas, das Elaines Leben für immer verändern wird …

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #1 einer Trilogie; Band #2 erscheint im September 2020, Band #3 im Frühjahr 2021
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weibliche Perspektive
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch:  - Es wird Fleisch gegessen und die Bejagung von Splittertieren wird kurz angesprochen. Ansonsten wird im Buch kein Tier verletzt, gequält oder getötet.
Triggerwarnung: Tod von Tieren, Tod von Menschen, Gewalt, Sexismus, Blut, Feuer

Warum dieses Buch?

Ich hatte im Vorfeld viel Gutes über dieses Buch gehört und der Klappentext klang nach einer sehr kreativen Welt. Außerdem habe ich mich darauf gefreut, einmal eine Dystopie von einer deutschen Autorin zu lesen!

Meine Meinung

Einstieg (4 Lilien)

„Nur wenige waren dazu bestimmt, ein Läufer zu werden.
Ich ‚musste‘ unbedingt dazugehören.“ E-Book, Position 134

Der Einstieg hätte zwar noch etwas temporeicher sein dürfen, und am Beginn fühlte ich mich mangels Erklärungen etwas verloren, aber ich habe recht schnell und problemlos in die Geschichte gefunden. Nach dem Start des Vortex-Rennens möchte man natürlich unbedingt wissen, wie es für Elaine ausgeht!

Schreibstil (4 Lilien)

Der Schreibstil der Autorin hat mir gut gefallen. Ihre Sprache ist einfach, flüssig, sehr anschaulich, aber nicht zu oberflächlich – und dadurch perfekt für ein Jugendbuch geeignet. Außerdem gibt es vereinzelt humorvolle Szenen, die mich zum Schmunzeln gebracht haben.

Idee, Inhalt, Themen & Ende (3,5 Lilien)

„‘Manche von euch mögen Grunder für langsam halten, Wirbler für zart, Schwimmer für scheu und Zünder für einfältig, doch ich rate euch, diese Schönredereien schnell abzulegen. Wenn wir unsere Kontrolle über die Vermengten auch nur für eine Sekunde lockern, könnte das den Untergang der menschlichen Zivilisation bedeuten.‘“ E-Book, Position 102

Nach den vielen positiven Rezensionen und da das Buch vom Verlag als „Future-Fantasy-Trilogie auf Weltklasseniveau“ beschrieben wurde, waren meine Erwartungen natürlich hoch. Zuerst zu den Aspekten, die mir gefallen haben: Ich finde die Grundidee der Autorin erfrischend und sehr kreativ. Auch das Worldbuilding überzeugt auf ganzer Linie: Häppchenweise erfährt man immer mehr über die dystopische Zukunft. Insgesamt haben mir auch der Aufbau der Geschichte und das Ende, das definitiv neugierig auf den zweiten Band macht, sehr gut gefallen. Themen wie Erwachsenwerden, Emanzipation, Wahrheit und Lüge, Rebellion, Vorurteile, Zeitreisen, Rassismus, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Praktisch fand ich außerdem die Karte und die kurzen Steckbriefe zu den verschiedenen Typen von Vermengten am Ende des Buches.

Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten. Zum einen waren das einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte und die Verwendung von Klischees. Viele Wendungen und Bausteine kannte ich aus vielen anderen (und besseren) Dystopien schon. Während die Welt also sehr innovativ aufgebaut war, hätte ich mir beim Handlungsverlauf mehr Kreativität gewünscht und zusätzlich im schwächeren Mittelteil mehr Tempo. Zum anderen konnte mich der Fantasy-Jugendroman auch emotional leider nicht immer so erreichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Auftakt abgeliefert, der aber leider auch seine Schwächen hat und für mich nicht „Weltklasseniveau“ hat – dafür ist noch zu viel Luft nach oben. Ein guter Grundstein ist nun allerdings schon gelegt. Es bleibt zu hoffen, dass der zweite Band die vorhandenen Stärken weiter ausbauen und das gesamte Potential der Idee nutzen kann. Ob ich die Fortsetzung lesen werde, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau.

Liebesgeschichte (3 Lilien) (Vorsicht Spoiler!)

Die Liebesgeschichte lässt mich innerlich zerrissen zurück. Einerseits fand ich Balians Verhalten Elaine gegenüber nicht immer nett, ich spürte über weite Teile der Geschichte kein Knistern zwischen den beiden und manche Szenen waren mir echt zu kitschig, andererseits gab es durchaus auch glaubhafte Entwicklungen und sehr süße Momente, die mir gefallen haben.

Protagonistin (4 Lilien) & Figuren (4 Lilien)

„‘Du willst immer, zu jeder Zeit, ohne jeden Zweifel das Richtige tun, oder?‘
‚Und das ist eine Charakterschwäche für dich, oder was?`, fragte ich angesäuert. “ E-Book, Position 3722

In einzelnen Rezensionen habe ich gelesen, dass manche Elaine als Protagonistin nicht mochten. Bei mir war das anders: Ich mochte sie, ihren Ehrgeiz, ihre Empathie und ihren Mut, habe mit ihr mitgefühlt und konnte verstehen, warum sie am Beginn so fixiert auf ihren großen Traum ist. Deshalb habe ich sie auch gerne begleitet. Trotzdem hat sie auch ihre Schwächen: Meiner Meinung nach hätte sie noch ein bisschen dreidimensionaler sein dürfen, ihre manchmal große Naivität und die Tatsache, dass sie ihre Meinung gefühlt alle 2 Sekunden ändert, haben mich außerdem in manchen Momenten ein bisschen genervt. 

Die anderen Figuren sind ebenfalls gut gelungen, interessant und sympathisch. Am liebsten mochte ich den überschwänglichen Schneider und die fröhliche, leicht vergessliche Susi. Nur wenige Charaktere blieben etwas blass und hätten noch etwas mehr Farbe und etwas weniger Klischees vertragen können (z. B. Mia).

Spannung (2 Lilien) & Atmosphäre (4 Lilien)

Die über weite Strecken fehlende Spannung ist mein Hauptkritikpunkt. Die Geschichte fängt zwar stark an und erreicht schnell einen ersten Höhepunkt, doch der Mittelteil schwächelt stark und hätte sowohl mehr Tempo als auch mehr Spannung vertragen. Auch ruhige Szenen sind zwar (vor allem für die Figurenzeichnung) wichtig, aber mich konnte die Geschichte leider bis zum Ende nicht mehr so richtig packen. „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ ist meiner Meinung nach vom Spannungsniveau daher leider nicht mit Weltklasse-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ zu vergleichen.

Gefallen hat mir hingegen, wie anschaulich und atmosphärisch Anna Benning das Jahr 2099 zum Leben erweckt. Ihre bildlichen Beschreibungen des sterilen Kuratoriums, der fantastischen und gefährlichen Reisen durch die Vortexe in fremde Länder und der Menschen, die sich mit einem der vier Elemente verbunden haben, überzeugen! Es hat wirklich Spaß gemacht, diese fremde Welt zu entdecken.

Feministischer Blickwinkel (3 Lilien)

Bechdel-Test (zwei Frauen mit Namen sprechen miteinander über etwas anderes als einen Mann): bestanden!
Frauenfeindliche / gegenderte Beleidigungen: Ziege, Zicke, Miststück

Die feministische Analyse des Buches lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits mochte ich Elaine als starke, mutige, ehrgeizige Protagonistin und die Tatsache, dass beide Geschlechter die gleichen Uniformen tragen und für den körperlich und seelisch anspruchsvollen Beruf der/des VortexläuferIn ausgebildet werden. Mir hat auch gefallen, dass die Geschichte auf Slutshaming  verzichtet, dass sie den Bechdel-Test besteht und dass es viele gut gebildete Frauen im Buch gibt – in den höchsten Positionen finden sich allerdings seltsamerweise nur Männer (Stichwort: gläserne Decke!).

Andererseits mochte ich die Stutenbissigkeit und die klischeehafte Ausarbeitung von Mia nicht. Zudem empfinde ich es als problematisch, dass sich Elaine jahrelang in der Ausbildung zurückhält, um nicht das fragile Ego ihres Schwarms zu verletzen, indem sie ihn vom ersten Platz verdrängt. Außerdem war oft nur von „Vortexläufern“ die Rede – hier hätte es wirklich Sinn gemacht, zu gendern! Auch Balians latent sexistische, toxische Verhaltensweisen Elaine gegenüber haben mir nicht gefallen. Warum muss er sie unbedingt Barbie nennen und ständig behandeln, als wäre sie dumm? Auch wenn sich die Beziehung zwischen den beiden schließlich ändert, muss das zumindest angesprochen werden, da es sich hier immerhin um ein Jugendbuch handelt. Es gibt also schon einiges, was die Autorin richtig macht, da ist aber gleichzeitig noch Luft nach oben. Ich hoffe, dass Anna Benning im zweiten Band noch etwas sensibler mit diesen Themen umgeht!

Mein Fazit

Mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ hat Anna Benning einen Jugendroman mit vielen Stärken, aber leider auch einigen Schwächen geschrieben. Ich mochte den flüssigen, anschaulichen und altersgerechten Schreibstil der Autorin. Auch die kreative, erfrischende Grundidee, das überzeugende Worldbuilding, die dichte Atmosphäre und das Ende, das neugierig auf die Fortsetzung macht, haben mir sehr gut gefallen! Themen wie Erwachsenwerden, Diskriminierung und Liebe behandelt das Buch angemessen tiefgründig und altersadäquat. Auch moralische Fragen und Gesellschaftskritik werden in die Geschichte auf gelungene Weise thematisiert. Die Figuren sind gut ausgearbeitet und großteils sympathisch, nur manche bleiben blass. Elaine mochte ich als starke, ehrgeizige und mutige Protagonistin, auch wenn sie noch etwas dreidimensionaler sein hätte können und wenn mich ihre Naivität in manchen Momenten genervt hat. Zweigespalten lassen mich die Liebesgeschichte und die feministische Analyse zurück – manche Dinge sind hier gut, andere eher weniger gut gelungen (mehr dazu in meiner Rezension). Leider gab es auch Aspekte, die mich nicht überzeugen konnten: einzelne Brüche in der Logik, die Vorhersehbarkeit der Geschichte, die Verwendung von Klischees und bekannten Bausteinen und der Mangel an Spannung und Tempo. Anna Benning hat mit „Vortex – Der Tag, an dem die Welt zerriss“ einen soliden Reihenauftakt abgeliefert, der für mich aber nicht mit „Weltklasse“-Dystopien wie „Die Tribute von Panem“ vergleichbar ist. Vielleicht kann sich die Geschichte ja im zweiten Band noch steigern – ob ich ihn lesen werde, weiß ich noch nicht. Aber: Auch wenn mich das Jugendbuch nicht auf ganzer Linie überzeugen konnte, solltet ihr Anna Bennings faszinierender dystopischer Zukunft auf jeden Fall eine Chance geben – sonst verpasst ihr möglicherweise euer nächstes Lieblingsbuch!

Bewertung

Idee: 5 Lilien ♥
Inhalt, Themen, Botschaft: 4 Lilien
Umsetzung: 3,5 Lilien
Worldbuilding: 5 Lilien
Einstieg: 4 Lilien
Ende / Auflösung: 4 Lilien
Schreibstil: 4 Lilien
Protagonistin: 4 Lilien
Figuren: 4 Lilien
Liebesgeschichte: 3 Lilien
Spannung: 2 Lilien
Atmosphäre: 4 Lilien
Emotionale Involviertheit: 3 Lilien
Feministischer Blickwinkel: 3 Lilien

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir dreieinhalb Lilien!