Rezension

3,5 Sterne: Schuld, Katastrophen, ein kleines Dorf und ein unerträglicher Protagonist

Drei Tage und ein Leben
von Pierre Lemaitre

Ein beklemmendes, düsteres Buch, das stellenweise schwer zu lesen und zu verdauen ist. Der Autor kreiert eine hoffnungslose, beengende Dorfatmosphäre und vermag mit seiner Geschichte um Schuld und Katastrophen gut zu unterhalten. Der mir zunehmend verhasste Protagonist machte es mir allerdings stellenweise schwer, weiterzulesen.

* Die Rezension enthält Spoiler, vor denen aber noch einmal im Text gewarnt wird! *

~ Ein beklemmendes, düsteres Buch, das stellenweise schwer zu lesen und zu verdauen ist. Der Autor kreiert eine hoffnungslose, beengende Dorfatmosphäre und vermag mit seiner Geschichte um Schuld und Katastrophen gut zu unterhalten. Der mir zunehmend verhasste Protagonist machte es mir allerdings stellenweise schwer, weiterzulesen. ~

Inhalt

Er ist zwölf Jahre alt. Und er ist ein Mörder. In Wut und Trauer über den Tod seines besten Freundes, des Hundes Odysseus, schlägt Antoine einem Kind mit dem Stock auf den Kopf. Durch einen tragischen Zufall trifft er dessen Schläfe und tötet ihn damit. Antoine befindet sich im Schockzustand: Was soll er nun bloß tun? In drei Zeitabschnitten schildert der Autor eine Geschichte um Schuld, Katastrophen und das kleine Dorf Beauval.

Informationen

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Erzählstil: Figuraler Erzähler + Allwissender Erzähler, Präteritum und teilweise Präsens;
Perspektive: aus männlicher Perspektive
Kapitellänge: normal (ca. 8 – 12 Seiten)
Tiere im Buch: - / + Es wird im Buch ein leidender Hund beschrieben, der mit einem Gewehr erschossen wird. Der Tod eines kleinen Hundes wird erwähnt. Ansonsten werden keine Tiere gequält oder getötet. Aber einen Satz fand ich in diesem Buch wirklich gar nicht in Ordnung: Antoine packt einen Stock und schenkt ihn als wäre er der Besitzer eines Hundes (aus dem Gedächtnis wiedergegeben). Ganz ehrlich: Wenn es für den Autor immer noch alltäglich sein sollte, einen Hund mit Gewalt zu erziehen, läuft in dessen Umfeld aber einiges gewaltig schief. Es ist auch nicht so, dass das Buch vor hundert Jahren spielt, also ist dieser Vergleich absolut unpassend.

Zitat

„Das Ausmaß der Katastrophe hat ihn niedergeschmettert. Innerhalb weniger Minuten hat sein Leben die Richtung geändert. Er ist ein Mörder. Die beiden Bilder passen nicht zusammen. Man kann nicht zwölf Jahre alt und ein Mörder sein. Ihn überwältigt schwindelerregender Kummer.“ Seite 29

Meine Meinung

Einstieg

Der Einstieg fällt nicht allzu leicht. Erst nach den ersten Seiten, in denen man das Dorf etwas näher kennenlernt, kommen Spannung, Entsetzen, Bestürzung und Beklemmung auf, als der kleine Antoine in einem Wutanfall ein Kind tötet.

Schreibstil

Der Schreibstil ist flüssig, routiniert und anschaulich. Der Autor wechselt zwischen Präsens und Präteritum, zwischen der eher kindlichen Erzählung von Antoine und der sachlicheren eines übergeordneten Erzählers, nutzt immer wieder die indirekte Rede. Man merkt, dass Lemaitre sein Handwerk versteht und dass dies nicht sein Erstlingswerk ist.

Aufbau

Das Buch ist in drei zeitliche Abschnitte unterteilt. Der erste enthält die Kerngeschichte, die sich in Beauval im Jahre 1999 abspielt, der zweite Abschnitt schildert das Leben von Antoine im Jahre 2011, der dritte die Zeit ab 2015.

Protagonist & Personen

Lemaitre gelingt es vorzüglich, interessante Personen zu kreieren, die absolut authentisch in dieses kleine, irgendwie enge Dorf Beauval passen. Dabei haben wir es mit einzigartigen Personen zu tun, manche seltsam, manche kompliziert, viele schlichtweg unsympathisch.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Antoine, der in einem kindlichen Wutanfall versehentlich einen Jungen tötet. Der Autor beweist ein feines Gespür für die kindliche Psyche, für Antoines Gedanken und (Schuld)Gefühle. Es ist beeindruckend, wie gut er sich in seine Figur hineinversetzt, wie schockierend authentisch und echt seine Schilderungen wirken. Als Kind mochte ich Antoine wirklich, schnell wird klar, dass er es mit seiner Mutter und als Scheidungskind nicht leicht hat. Seine Einsamkeit, das Gefühl nicht dazuzugehören und seine ins depressive gehende Grundstimmung erwecken Mitgefühl. Als Tierliebhaberin konnte ich zudem nur zu gut verstehen, welche Wut und Trauer über den Tod von Odysseus Antoine entwickelt. Die Tragik der Situation ist kaum zu ertragen, es ist schwer „zuzuschauen“ wie dieses Kind, von seinen Gefühlen überwältigt und durch einen schrecklichen Zufall, zum Mörder wird. Es ist beklemmend, düster und schwer, Antoine an diesem Punkt im Buch zu begleiten. Dafür ein großes Lob an den Autor.
Doch dann kamen die Abschnitte 2011 und 2015 und in mir entwickelte sich zuerst Abneigung und schließlich immer größer werdender Hass auf den Protagonisten.

*** Achtung Spoiler! ***

Schon viel früher fragte ich mich einmal, warum er sich so dumm verhält: Da tötet er wenige Tage vorher ein Kind, schon kurze Zeit später schlägt er einem Klassenkameraden erneut mit einem Stock auf den Kopf. Bitte? Wenn ich mich so schuldig und schockiert fühle, nehme ich sicher nie mehr einen Stock in die Hand, um jemanden zu verletzen! Das konnte ich nicht wirklich nachvollziehen und es hat mich gestört. Dann jedoch kamen, wie gesagt, die späteren Abschnitte: Aus dem unsicheren Antoine ist ein ängstlicher, feiger Erwachsener geworden, der teilweise furchtbar egoistisch und kaum zu ertragen ist. Da empfindet er „keine übermäßige Scham“, wenn ein Unschuldiger an seiner Stelle verhaftet wird (daran, sich endlich zu stellen, denkt er sowieso nicht), da bedauert er mehrmals arrogant, wie furchtbar dumm und gleichzeitig schrecklich „sexy“ eine junge Frau ist und wie tragisch das sei. Menschen suchen sich nicht aus, mit welcher Intelligenz sie geboren werden und Antoines überhebliche Denkweise (für einen Mörder besonders frech) ging mir einfach nur auf die Nerven. Das Schlimmste war jedoch seine Reaktion auf die Schwangerschaft von Émilie (mit der er seine Freundin betrogen hat, aber nein, nein, nichts davon war seine Schuld). Er fühlt sich absolut unschuldig an der ganzen Sache, verdächtigt Émilie, das „mit Absicht“ gemacht zu haben, fährt sie an, was sie überhaupt will und drängt sie zu einer Abtreibung NACH der erlaubten Frist. Verantwortung übernehmen hat er jedenfalls nie gelernt (der Hochzeit stimmt er schließlich aus anderen Gründen zu)! Während man am Anfang noch unschlüssig ist, wünscht man sich am Ende nur noch, dass dieser ekelhafte und feige Mensch endlich erwischt wird (auch wenn ich nicht weiß, wie es da überhaupt mit der Strafe ausschauen würde). Da ich nicht denke, dass es das Ziel des Autors war, derartige Abneigung in mir auszulösen, würde ich sagen, was immer er erreichen wollte, ist teilweise misslungen. Hierfür gibt es einen Punkt Abzug, weil Antoine für mich kaum zu ertragen war.

*** Spoiler Ende! ***

Idee & Themen

Das beklemmende Thema setzt Lemaitre sehr eindrucksvoll um. Man kann die Verzweiflung, die Ratlosigkeit des jungen Mörders förmlich spüren. Stellenweise ist das Buch schwer zu lesen, weil die Geschichte so erschütternd ist. Der erste Teil hat mir mit Abstand am besten gefallen, auch wenn der Autor am Schluss noch eine unerwartete Enthüllung platziert, die überzeugen konnte.

Atmosphäre

Die beengende Atmosphäre eines Dorfes, in dem jeder jeden kennt, erweckt der Autor anschaulich zum Leben. Auch wer selbst noch nie auf dem Land gewohnt hat, bekommt einen Eindruck vom beschaulichen, unaufregenden Leben dort, das sich hauptsächlich um die kleinen und größeren Sorgen des Alltags dreht, dass sich (was manche betrifft) gegen jede Einmischung von außen, gegen jeden Blick über den eigenen Horizont sträubt. Dennoch wirken die Beschreibungen des Autors wie eine hoffnungslosere, düsterere Version des wahren Dorflebens. Stellenweise fühlt man sich in eine frühere Zeit zurückversetzt, man staunt, wenn man sich erinnert, dass die Geschichte eigentlich 1999 spielt.

Spannung

Immer wieder kommt Spannung auf, wenn man als Leser/in mit dem Protagonisten mitfiebert und darauf wartet, dass er erwischt wird. Dennoch gab es Stellen, an denen ich mir mehr davon gewünscht hätte. Ebenso schrecklich wie spannend sind auch die Schilderungen des Sturmes, der damals große Gebiete in Europa verwüstet hat.

Mein Fazit

Ein beklemmendes, düsteres Buch, das stellenweise schwer zu lesen und zu verdauen ist. Der Autor kreiert eine hoffnungslose, beengende Dorfatmosphäre und vermag mit seiner Geschichte um Schuld und Katastrophen gut zu unterhalten. Der mir zunehmend verhasste Protagonist machte es mir allerdings stellenweise schwer, weiterzulesen.

Bewertung:

Idee: 4 Sterne
Ausführung: 3,5 Sterne
Schreibstil: 4,5 Sterne
Personen: 5 Sterne
Hauptperson: 3 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne

Insgesamt:

❀❀❀,5

Dieses Buch erhält von mir 3,5 Lilien!