Rezension

4 Sterne - Nicht ganz "meine Reise"

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte - Rachel Joyce

Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte
von Rachel Joyce

Bewertet mit 4 Sternen

Mit "Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte" legt Rachel Joyce ihren zweiten Roman nach ihrem preisgekrönten Debüt "Die unglaubliche Reise des Harold Fry" vor.

Ihr neuer Roman spielt in zwei Zeitebenen: 1972 sind die Freunde Byron und James 11 Jahre alt. In diesem Jahr werden 2 Sekunden in die Zeit eingefügt, weil das Jahr ein Schaltjahr war und die Zeit nicht mehr im Takt mit der Erdbewegung.

Byron und James machen ein großes Thema aus dieser Sache und tatsächlich scheinen die beiden Sekunden das Leben von Byron und seiner Familie nachhaltig zu verändern: in diesen 2 Sekunden passiert ein Unfall... oder etwa doch nicht? Lange bleibt der Leser im Unklaren, was in diesen beiden Sekunden wirklich passiert ist und wird zudem abgelenkt von anderen Dingen, die eine wichtige Rolle in diesem Buch spielen.

In der Gegenwart trifft der Leser auf Jim: einen Mann Anfang 50, den etwas in seiner Vergangenheit so aus der Bahn geworfen hat, dass er viele Jahre seines Lebens in der Psychiatrie verbringen musste und extreme Zwangshandlungen entwickelt hat. Handelt es sich bei diesem Mann um James? Und falls ja, was ist passiert, was Jim zu der Person gemacht hat, die er heute ist?

Rachel Joyce verarbeitet in ihrem neuen Roman die Rolle der Frau in den frühen 70er Jahren am Beispiel von Byrons Mutter Diana, die Probleme hat mit ihrer zugedachten Rolle zurechtzukommen und auf Grund gesellschaftlicher Zwänge keinen Anschluss und keine Freunde findet. Man liest viel darüber, wie extrem die Rollenverteilung von Frau und Mann damals noch war und ein Paar keine ebenbürtigen Rollen in einer Partnerschaft hatte. Byrons Vater ist die ganze Woche zum Arbeiten außer Haus und sein Verhalten gegenüber seiner Frau ist sehr bestimmend und bevormundend, so dass es auf den Leser, der nicht in dieser Zeit aufgewachsen ist, eher wie Vater-Tochter-Verhältnis wirkt. Rachel Joyce lässt die frühen 70er Jahre bedrückend realistisch vor dem Auge des Lesers erstehen, die Rolle der zwei Sekunden ist jedoch manchmal schwer einzuordnen und wirkt ein wenig störend auf die eigentliche Handlung und Intention des Buches.

Die beiden Zeitebenen arbeiten gegeneinander: während das Leben 1972 sich immer mehr in eine negative Richtung entwickelt, scheint es in der Gegenwart für Jim einen Hoffnungsschimmer am Horizont zu geben. Doch mit der Aufklärung, wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden sind, hält Rachel Joyce noch eine Überraschung für den Leser parat, die viele Gedanken, die man während des Lesens entwickelt hat, komplett über den Haufen wirft.

Rachel Joyce hat einen unheimlich leichten und poetischen Schreibstil, der umso mehr ins Herz trifft, da sie in "Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte" sehr bedrückende Themen behandelt. Hier geht es um den Zerfall einer Familie, um missbrauchte Freundschaft, um Depressionen und Psychosen, und das alles aus der Sicht eines Kindes beschrieben, wodurch das Ganze noch bedrückender und trauriger wirkt.

Leider konnte mich Rachel Joyce mit ihrem neuen Werk trotzdem nicht ganz so beeindrucken wie mit ihrem Erstling, was in erster Linie daran lag, dass mir einige Figuren zu blass und wenig präsent waren, allen voran der 1972er James. Im Gegensatz zu der unglaublichen Reise von Harold Fry, bei der der Leser trotz Rückblenden von Beginn an auf ein Ziel hingeführt wurde, blieb man für meinen Geschmack bei Rachel Joyces neuem Buch außerdem zu lange im Unklaren darüber, wohin - rein metaphorisch gesehen - die Reise gehen soll. Darüberhinaus hat mich die Geschichte von Harold Fry mit einem besseren Gefühl zurückgelassen als die von Byron, obwohl beide Bücher mit einem Hoffnungsstreifen am Horizont enden. Byrons Erlebnisse haben mehr an meinen Nerven gezerrt und Harold Fry konnte mehr Sympathie bei mir wecken.

Rachel Joyce ist eine großartige Schriftstellerin, die mit Worten zaubern kann, ihr drittes Buch werde ich sicherlich ebenfalls lesen, mit der Hoffnung, dass es wieder mehr meine Reise ist als "Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte".