Rezension

4,5 Sterne / Wieder ein tolles Jugendbuch von Antonia Michaelis

Niemand liebt November - Antonia Michaelis

Niemand liebt November
von Antonia Michaelis

Zum Inhalt:

Kurz vor Ambers sechstem Geburtstag verschwanden ihre Eltern auf unerklärliche Weise. Jetzt ist Amber, die eigentlich November heißt, 17 Jahre alt und glaubt, eine Spur zu haben. Doch was hat es mit dem Jungen auf sich, der in dem erleuchteten Zelt ein Buch liest, sich aber in Luft auflöst, sobald sie sich ihm nähert? Welche Ziele verfolgt der Kneipenwirt, zu dem sie sich immer stärker hingezogen fühlt, und der immer für sie da zu sein scheint? Steckt er vielleicht sogar hinter den anonymen Drohungen, die sie erhält? Amber muss sich entscheiden: zwischen ihrer zerstörerischen Vergangenheit und dem Aufbruch in die Zukunft. (© Oetinger Verlag)

Meine Meinung:

“Zwei Fragen.
Erstens: Ist es sinnvoll, weiterzuleben?
Zweitens: Ist es sinnvoll, alleine Geburtstag zu feiern?
Ein Teil von ihr hatte gedacht, sie würden an ihrem Geburtstag wieder da sein. Mit einem Geschenk. Sie waren jetzt seit einer Woche weg. Sie wusste nicht, was passiert war. Sie hatte geschlafen.
Sie hatte den Kuchen ganz allein gebacken. Gut, dass sie die Kerzen gefunden hatte. Vier Stück. Zwei zu wenig. Sie war sechs Jahre alt.” (Seite 7)

“Niemand liebt November” – der Titel ist Programm. In Novembers Vergangenheit. In Novembers Gegenwart.

Antonia Michaelis’ schafft es immer wieder, mich mit den ersten Worten ihrer Geschichte in diese hineinzuziehen. Und am Ende, wenn ich aus dieser wieder in die reale Welt auftauche, fühle ich mich emotional erschöpft, ausgelaugt. Die Schicksale ihrer Protagonisten gehen mir unter die Haut. Auch ihr neuestes Jugendbuch bildet da keine Ausnahme.

November Lark, Spitzname Amber, ist ein einsames Mädchen. Mit ihren 17 Jahren hat sie schon einiges erlebt. Nach dem Verschwinden ihrer Eltern kurz vor ihrem sechsten Geburtstag kam Amber in diverse Heime und Pflegefamilien. Zuletzt lebte sie in einer betreuten WG. Doch Amber hatte immer Probleme, sich in den verschiedenen Einrichtungen anzupassen. Unablässig trieb sie das Gefühl, dass ihre Eltern noch leben. Dass sie sie bloß finden muss, damit ihr Leben wieder lebenswert wird.

“Etwas in ihr schmerzte. Weil nur Lucy Andrusch Pajak küsste und weil November Lark, die echte November, sich danach sehnte, von einem Jungen in die Arme genommen zu werden, der Bücher las und ein rot-gelbes Igluzelt besaß. Von einem Jungen, der auf unerklärliche Art zu ihr gehörte. Und den sie doch nicht finden konnte.” (Seite 51)

Das daraus resultierende Gefühl der Leere und der Unvollständigkeit hat Antonia Michaelis mit ihren Worten wunderbar transportiert. So habe ich zu keiner Zeit an Ambers Taten, Gedanken und Gefühlen gezweifelt. Ich verspürte vielmehr das Bedürfnis, Amber bei ihrer Suche helfen zu wollen. Doch mehr, als ihr meine volle Aufmerksamkeit zu schenken und sie lesend auf ihrem Weg zu begleiten, konnte ich leider nicht tun.

Ambers Charakter hat von der Autorin viele passende Facetten verliehen bekommen. Auf der einen Seite unsicher und introvertiert, kann sie aber auch provokant und aufreizend sein – in Situationen die Amber zu überfordern scheinen. Dann wird aus Amber Lucy. Lucy kann Menschen, vor allem Männer, um den Finger wickeln, Antworten aus ihnen herauslocken. Doch um das zu erreichen tut Lucy Dinge, die Amber zwar die fehlende und nötige Wärme geben, ihr aber in gleicher Weise auch schaden.

“Ihr Handgelenk schmerzte, dort, wo Katja sie festgehalten hatte; das Gefühl war ganz anders als der Schmerz, für den sie bezahlt worden war. Es reichte tiefer. Und das erstaunte sie selbst.” (Seite 299)

Die anderen Charaktere sind ähnlich vielschichtig. Selbst die namenlose Katze, Ambers treue und ständige Begleiterin, zeichnet sich durch einen – zugegebenermaßen von Amber eingebildeten – tiefgründigen Charakter aus. Kneipenwirt Katja, der lesende Junge im rot-gelb leuchtenden Igluzelt und der unbekannte Drohbriefschreiber sowie die Unterschlupf gewährende alte Dame runden die Geschichte, jeder auf seine eigene Art und Weise, ab.

Düster ist die Grundstimmung und auch Färbung der Geschichte – in vielerlei Hinsicht. Die Aura, die Amber umgibt; das Winterwetter in der Großstadt; der Hausflur, in dem Amber ihre Nächte verbringt … Und das ein oder andere Mal wird aus düster auch pechschwarz und dunkel wie die Nacht. Lichtblicke gibt es nur selten. Und wenn, dann in Form des gelb-rot leuchtenden Igluzeltes.

“Sie war nicht mehr als ein Gegenstand. Man konnte ihn wegwerfen oder aufbewahren, für später. Sie fragte sich, ob man nach Gebrauch Pfand für die leere Hülle bekam.” (Seite 238)

Ambers Suche gleicht einer Schnitzeljagd. Mit jedem neuen Hinweis kommt sie dem Rätsel um das Verschwinden ihrer Eltern ein Stückchen näher. Während ihrer Suche lässt sie sich weder durch die mysteriösen Drohbotschaften noch von Katjas Einwänden aufhalten. Denn am Ende, wenn sie ihrer Eltern und somit die Liebe gefunden hat, wird alles wieder gut werden. Davon ist Amber felsenfest überzeugt. Und ich war es auch. Ich habe mit und für Amber gehofft, dass ihre Wünsche – auch die geheimsten – wahr werden.

Im Verlauf der Geschichte passiert so einiges. Amber geht durch viele Tiefen und ab und zu erlebt sie auch mal ein kleines Hoch. Ich klebte wie gebannt an den Seiten und wollte zusammen mit Amber das Geheimnis lösen. Als sich der Nebel der Unwissenheit dann zum Ende hin mehr und mehr verzieht, sieht man zwar einiges deutlicher aber nicht unbedingt klarer. Und für meinen Teil war die Auflösung des Verschwindens ein wenig du dürftig für ein Buch dieses Formates. Das ist aber auch schon der einzige, kleine Minuspunkt und die Auswirkungen auf meinen Gesamteindruck sind nicht von großer Bedeutung.

“Niemand liebt November” war mein drittes Jugendbuch der Autorin und kann problemlos mit “Der Märchenerzähler” und “Die Worte der weißen Königin” mithalten. Antonia Michaelis’ ganz eigene Art und Weise zu schreiben liegt sicherlich nicht jedem. Für mich sind ihre Bücher aber immer ein ganz besonderes Lesevergnügen.

»Jetzt gehörst du mir«, flüsterte er. »Ich bin der Letzte, dem du gehörst. Und damit eigentlich der Einzige.« (Seite 392)

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