Rezension

Abenteuer pur - ein ungewöhnliches Frauenleben 1882-1966

Der zerrissene Brief - Hanns Zischler

Der zerrissene Brief
von Hanns Zischler

Bewertet mit 4.5 Sternen

Als die Studentin Elsa in einer persönlichen Krise mit ihrer Nenntante telefoniert, lädt die sie kurz entschlossen in ihr Dorf bei Treuchtlingen ein. Von Nürnberg aus wäre es mit der Bahn doch nicht weit. Zwischen Elsa und Pauline Lassenius liegen rund 60 Jahre Altersunterschied, die kinderlose Pauline nahm die verwaiste, damals 8-jährige Elsa einmal spontan in den Ferien bei sich auf und seitdem hatten die beiden Frauen miteinander korrespondiert. Durch diese Einladung in den 60ern des vorigen Jahrhunderts erhält Elsa - ohne es damals zu wissen -  die letzte Gelegenheit vor Paulines Tod, von deren ungewöhnlichem Lebensweg zu erfahren. Pauline ist 1882 geboren; Mädchen ihres Jahrgangs wurden normalerweise mit 13 Jahren als Hausmädchen in einen Bürger- oder Bauernhaushalt gegeben. Die ungewöhnlich wissbegierige Pauline lernt jedoch Max kennen, der von seinen Pelzhändler-Vorfahren einen ebenfalls ungewöhnlichen Abenteuerhunger erbte. Bevor aus Pauline und Max ein Paar wird, reist Pauline 1899 allein nach New York, wo sie im Botanischen Garten der Bronx die Botanik als eigenes, von Max Interessen unabhängiges Fachgebiet entdeckt. Max wurde  von seiner Neugier zu den Bewohnern der kanadischen Pazifikküste und nach Kamtschatka getrieben; später lebte das Paar jahrelang in Schweden.  Die Lücken in den Lebensläufen des Paars, die zunächst zwischen der Reise nach New York und der Rückkehr der beiden Abenteurer in Paulines Heimat zu klaffen scheinen, füllen sich allmählich durch Paulines Erinnerungssplitter, Briefe, Fotos und Artefakte aus aller Welt.

Natürlich habe ich mich - gerade wegen des großen Altersunterschieds - gefragt, wie die erwachsene Elsa inzwischen zu Pauline stand und ob sie den historischen Wert von Paulines persönlichem Nachlass überhaupt erkennen konnte. Elsa dient in erster Linie als Stichwortgeberin für Pauline und Projektionsfläche für Episoden aus deren Leben, damit am Ende alle Rätsel aufgelöst werden können und sich der Kreis von Paulines Leben schließen kann. Es geht im Roman u. a. um die deutsche Nachkriegsgeschichte, um den geografischen Punkt „Treuchtlingen“ auf der Landkarte, um Briefe, Fotografie, Film und Museumsstücke aus der Zeit um 1900. Hanns Zischler erzählt in einer für die Zeit passenden Sprache und richtet sich damit an Leser, die von Begriffen wie Plafond, Perron, Kontor, Chaussee oder Entourage nicht überfordert sind. Max, Pauline und ihre Zeitgenossen verfügten über ungewöhnliche Fachkenntnisse, die durch das Erzählen Wertschätzung erhalten, ehe sie in Vergessenheit geraten.

Nicht immer war mir in der eBook-Version klar, welche der beiden Icherzählerinnen gerade das Wort ergreift. Das mag in der Printausgabe besser gelöst sein. Leider verrät der Klappentext bereits zu viel von dem, was sich erst zum Ende der Handlung ergeben wird. Wer sich für Briefe und Erinnerungsstücke vergangener Generationen interessiert und sich mit der sehr blassen Stichwortgeberin Elsa abfindet, kann hier in ein ungewöhnliches Frauenleben vor 120 Jahren blicken.