Rezension

Absolut außergewöhnlich und sehr anspruchsvoll

Das Erbstück - Anne B. Ragde

Das Erbstück
von Anne B. Ragde

Ein außergewöhnliches und anspruchsvolles literarisches Werk mit vielen Weisheiten, die es zu suchen gilt

Als Amalie Thygesen, genannt Malie Thalia, stirbt, scheinen sich alle nur zu freuen und darauf zu trinken, dass „die alte Hexe“ endlich tot ist. Alle, bis auf eine: ihre Enkelin Therese. Sie hat die Großmutter geliebt, schöne Zeiten mit ihr verlebt und sich dort immer wohl gefühlt. Ihre Oma war exzentrisch und hat bis zum Schluss mit jedem Mann geflirtet, der ihr gefallen hat. Doch weiß Therese, wer sie wirklich war? Beim Ausräumen ihres Hauses findet sie Hinweise über Malie Thalias bewegte Vergangenheit und macht sich ihre eigenen Gedanken darüber.

Der Roman beginnt und endet mit dem Tod Malie Thalias. Im Laufe der Geschichte wechseln die Protagonisten. Menschen aus ihrem Umfeld bekommen jeweils einen eigenen Teil, der aus ihrer Sicht erzählt. So erfährt der Leser die Zusammenhänge und warum Malie so geworden ist, wie sie nun einmal war.  

Selten ist mir eine Rezension so schwer gefallen wie diese. Während ich diese Zeilen schreibe, weiß ich noch nicht, ob am Ende 1 oder 5 Sterne stehen werden. Nach den ersten 100 Seiten habe ich überlegt, ob ich das Buch überhaupt weiter lesen soll. Als ich über diese Phase hinweg war, hat mich der Roman plötzlich auf eigentümliche Weise mehr und mehr in seinen Bann gezogen, ohne dass ich sagen kann, warum das so war. Ich wollte nun mehr erfahren, die Geschichte um Malia ließ mich nicht mehr los. Sie hat viel Leid erfahren, das mir teilweise die Tränen in die Augen getrieben hat, wurde dadurch sehr hart und unnachgiebig, vor allem ihrer Tochter gegenüber, die sich nie geliebt gefühlt hat. Aber wenn man die ganze Geschichte kennt, kann man nachvollziehen, warum sie so geworden ist. Und irgendwie wiederholt sich ihr Leben im Leben ihrer Tochter...

Der Schreibstil ist wirklich gewöhnungsbedürftig, da die Sätze teilweise sehr einfach, teilweise aber auch unglaublich komplex sind. Vor allem in der wörtlichen Rede findet man überwiegend kurze, prägnante Sätze, teilweise sogar ohne Verb. Ich schätze, die Autorin wollte damit darstellen, wie einfach die Protagonisten sind, überwiegend mit nur geringer Schulbildung. Dann aber findet man auch sehr ausschweifende, blumige Sätze mit diversen Nebensätzen, die sich über mehrere Zeilen hinweg ziehen und nicht immer leicht zu verstehen sind. Und außerdem gibt es immer wieder Weisheiten zu lesen, die im Buch versteckt sind wie kleine Diamanten im Sand:

„Vergiss nicht, dass eine Kinderseele weich wie Wachs ist und ihr Leben lang jeden einzelnen Eindruck von Gut und Böse bewahrt. Und ist nicht die Liebe eines Kindes, die oft viel treuer ist als die der Erwachsenen, ein Schatz, der es wert ist, ihn zu besitzen?“

Das ist definitiv kein Buch zum Abschalten. Der Leser braucht Ruhe und Geduld mit sich selbst und Malias Geschichte, darf nicht zart besaitet und muss bereit sein, über den Sinn des Lebens und die Macht der Liebe und auch des Hasses nachzudenken. Komplexe Gedankengänge ziehen sich durch die gesamte Geschichte und sind nicht immer einfach zu verstehen.

Anne B. Ragdes literarische Wortgewalt sucht sicher ihresgleichen. Die Geschichte braucht Zeit, Geduld und den Willen, sich auf ein außergewöhnliches literarisches Werk einzulassen und ist sicher nichts für Jedermann. Wer sich jedoch durcharbeitet, wird mit einer Fülle von Ansichten belohnt, die zum Nachdenken anregen. Als Bewertung gebe ich 4 von 5 Sternen, wobei der eine Stern Abzug lediglich der Eingewöhnungsphase und meiner Überlegungen am Anfang, das Buch abzubrechen, zu schulden ist.