Rezension

Abwechslungsreicher Agenten-Thriller

Orphan X - Gregg Hurwitz

Orphan X
von Gregg Hurwitz

Bewertet mit 5 Sternen

Es geht um Evan, ein Waisenkind, das irgendwie in das fragwürdige Orphan-Projekt gerät, in dessen Rahmen besondere Waisenkinder zu Top-Agenten ausgebildet werden. Evan wächst während seiner Ausbildung ohne Außenkontakte auf, die einzigen Menschen, mit denen er zu tun hat, sind sein Betreuer Jack und seine Lehrer. Mit Ende 20 ist Evan dann auf sich allein gestellt. Soweit ist das Thema erstmal nichts Neues, doch davon sollte man sich nicht abschrecken lassen!

Es bleibt unklar, ob die Orphan-Agenten ursprünglich für einen erhabenen moralischen Zweck ausgebildet wurden oder ob sie "für die Bösen" arbeiten sollten. Evan tut Dinge, die man nicht unbedingt einem "Guten" zuschreiben würde, doch er hat gute Prinzipien und macht es sich zur Aufgabe, Menschen zu helfen, die auf seine Hilfe angewiesen sind. So auch der 17-jährigen Latina Morena und ihrer kleinen Schwester Carmen, die seit dem Tod ihrer Eltern alleine wohnen und deren Hilflosigkeit schamlos von einem widerlichen Cop ausgenutzt wird. Oder der spielsüchtigen Katrin, die aufgrund eines riesigen Bergs von Spielschulden Stress mit üblen Gangstern hat. Zudem hilft er seiner alleinerziehenden, sympathischen Nachbarin Mia und deren 8-jährigen Sohn Peter. Also scheint er im großen und ganzen doch eher einer der Guten zu sein. Aufgrund seiner Ausbildung, seiner aktuellen Selbständigkeit (Menschen agentenmäßig zu helfen) und der daraus resultierenden Vorsicht lebt er allein und gibt nur wenig von sich preis. Auch der Leser erfährt nicht allzu viel. Evan ist etwa Mitte 30, sieht durchschnittlich aus, gut durchtrainiert, aber nicht so, dass man die Muskeln deutlich sieht (damit er von Gegnern unterschätzt wird und das Überraschungsmoment auf seiner Seite hat, und natürlich, damit er nicht auffällt). Er hat mehrere gesicherte Wohnungen mit karger, zweckdienlicher Ausstattung, mehrere Autos zum Wechseln - und er neigt zu Schuldgefühlen. Eine Schwäche, die sein größter Gegner in diesem Roman kennt und gnadenlos auszunutzen weiß.

Es ist schwierig, den Plot zusammenzufassen, ohne zu viel zu verraten. Ich erzähle daher lieber davon, was ich an diesem Buch besonders fand bzw. was mir aufgefallen ist.

Der Einstieg ist nicht so, dass er mich gleich total gefesselt hätte, aber er hat mich auch nicht so gelangweilt, dass ich das Buch beiseite gelegt hätte. Es wird immer mehr Spannung aufgebaut, spätestens ab dem 2. Viertel ist es richtig spannend. Der Endkampf ist wahnsinnig präzise beschrieben, sodass man richtig mitfiebern kann. Doch mit diesem entscheidenden Kampf ist das Buch noch nicht zu Ende, denn es haben sich im letzten Viertel mehrere, für Evan bittere, Wenden ergeben, die das bereits Erzählte in einem völlig anderen Licht scheinen lassen, sodass man, wie Evan, infrage stellen muss, wer gut ist und wer nicht, wem man trauen kann und wem nicht und welcher Zweck hinter allem steht.
Ich gebe zu, die letzten drei Viertel des Buches habe ich am Stück verschlungen, da es wirklich immer rasanter und spannender zuging.

Die Kapitel sind kurz (Lesedauer ca. 2 - 10 Minuten pro Kapitel) und enden nicht mit Cliffhangern, die einen daran hindern, das Buch aus der Hand zu legen, obwohl man dringend mal etwas anderes tun müsste (sich um die Familie kümmern, arbeiten, schlafen, ...). Das empfand ich als sehr angenehm. Trotzdem enden die Kapitel so, dass man sich darauf freut, weiterzulesen.

Die Hauptgeschichte, die übrigens in Los Angeles und Las Vegas spielt, wird im Präteritum erzählt. Es gibt allerdings auch ein paar, teils längere, Rückblenden, die kursiv und im Präsens beschrieben werden. Diese Rückblenden waren mir teilweise fast zu lang und ich war froh, wenn die Hauptgeschichte weiterging.

Wie bereits beschreiben, wird die Geschichte ziemlich rasant. Ein interessantes Werkzeug, dass der Autor verwendet, um den Puls des Lesers ein wenig herunterzufahren, um in einem gesunden Rahmen zu bleiben, ist die detailreiche Darstellung von Evans Meditation. Man wird direkt dahin hineinversetzt, wie Evan meditiert und auf was er dabei - in der Meditation - achtet. Auch der Nutzen von Achtsamkeitstraining wird anschaulich dargestellt und ist etwas, dass sicher vielen Lesern auch im stressigen Alltag helfen kann, ein wenig herunterzufahren.

Besonders schön fand ich auch, dass der, zur Emotionslosigkeit ausgebildete, in Einsamkeit aufgewachsene Evan, der keinerlei Ahnung von jeglicher Art menschlicher Beziehungen zu haben scheint (außer trainierte Höflichkeit etc.), eine Verbindung zum kleinen Peter entwickelt. Sympathisch fand ich auch, dass er das Chaos in Mias Wohnung, mit dem sich wahrscheinlich viele von uns - gerade diejenigen, die selber Kinder haben - in unseren eigenen Wohnungen herumschlagen müssen, als gemütlich und erstrebenswert empfindet (verglichen mit seinem einsamen, abenteuerlichen Dasein). Ein Ort der Ruhe und Geborgenheit.
In Mias Wohnungen hängen, zur Erziehung ihres Sohnes, Weisheiten auf PostIts, die Evan bei seinen Besuchen liest und die auch den Leser zum Nachdenken anregen. In Zusammenhang mit Mia ergibt sich auch die Weisheit, dass man niemals perfekt sein kann, wenn man sich um andere mitkümmern muss. Immer gibt es etwas, was man falsch macht, sei es, weil man es nicht besser weiß oder weil man es nicht besser kann, obwohl man alles gibt, klappt es nicht immer. Doch wenn man alleine ist, fehlt einem etwas, auch wenn man alles perfekt macht, also ist es wieder nicht perfekt. Aus meiner Sicht ist das eine sehr schöne Sichtweise auf Beziehungen/Familie.

Ich denke, wer dieses Buch liest, geht ohnehin davon aus, dass es mitunter ein wenig brutal zugeht. Manche Beschreibungen sind schon ein wenig heftig, aber für das Genre auch nicht besonders krass.

Der Schreibstil ist sehr flüssig, leicht lesbar, es gibt keine komplizierten Sätze, über die man stolpern könnte, und dennoch wirkt er nicht platt oder anspruchslos.

Während des Lesens habe ich mich des Öfteren gefragt, ob der Autor manches nur erfunden hat, weil er eine ausgeprägte Vorstellungskraft hat, oder ob er sich tatsächlich so tief in die verschiedenen Themen eingearbeitet hat, wie es wirkt (so selbstverständlich). Am Ende des Buches stellt sich in den Danksagungen heraus, dass es Letzteres ist und er sich tatsächlich sogar körperlich auf diverse Kampfsportarten etc. eingelassen hat, um Evans Moves, Methoden und Werkzeuge so realistisch wie möglich darzustellen. Ich bin kein Spezialist, was Agenten-Instrumente, Waffen oder Kampfsport betrifft, aber auf mich wirkte die Darstellung genauso überzeugend, wie der Autor es vermutlich beabsichtigt hat.

Ich freue mich, dass es bereits weitere Bände der Reihe gibt und werde sicherlich bald mit Band 2 beginnen.

INFO: Das Buch habe ich als Ebook (Kindle) gelesen, nur konnte man hier "Ebook" nicht auswählen. In der Ebook-Version kam es ein paarmal (ca. 4-5x) vor, dass mitten in einem Wort ein Leerzeichen war. Ob das in der Druckausgabe auch der Fall ist, weiß ich leider nicht.

Ich wünsche viel Spaß bei der Lektüre!