Rezension

Aktueller gehts nicht - Am Puls der Zeit!

Die Zeit der Ruhelosen - Karine Tuil

Die Zeit der Ruhelosen
von Karine Tuil

Bewertet mit 5 Sternen

Was soll ich sagen? Endlich mal wieder ein Roman, den ich nicht entnervt zwischenzeitlich weglegte!

Wenn man aus den Banlieue von Paris stammt, kann man sich durchaus eine kleine, nette Existenz aufbauen, es ist nicht zwangsläufig, dass man kriminell wird. Doch ganz nach oben wird man es ohne den richtigen Background nicht schaffen, es ist fast unmöglich! Das aber ist ein altes Lied und nicht auf die französische Banlieue beschränkt, trotzdem greift die Autorin, selber im Banlieue aufgewachsen und deshalb autenthisch wirkend, damit, dass ein Teil ihrer Helden bzw. Antihelden aus den Banlieue kommt, die ins Zentrum der Macht drängen, heiße gesellschaftliche Eisen auf.

Mit zwei Ressentiments lässt sich gesellschaftlich trefflich spielen, mit denen gegenüber den Farbigen, wobei gilt, je dunkler desto schlechter und mit denen gegenüber den Juden, wobei gilt, je reicher, desto übler. Nicht nur die Diskriminierung selbst ist ein Übel, sondern auch, dass mit einem im Raume stehenden Diskriminierungsverdacht politisch und gesellschaftlich regelrecht gehandelt und geschachert werden kann, man hat einen Trumpf in der Hand, Gegner werden ausgeschaltet, mundtot gemacht, Diskriminierungsvorwürfe oder im Verdacht des Rassismus zu stehen, sind eine poltische Ware geworden. Darum geht es!

Die Diskriminierung selbst hat sich im gesellschaftlichen Kontext verschoben, wird nicht mehr offen zur Schau getragen, das ist nicht political correctness, kein guter Ton, sie ist sublimer, aber sie ist da, selbst in höchsten Kreisen oder sogar gerade dort?

Das muss Osman Diboula erfahren, Streetworker aus den Banlieue und geschickter Schlichter. Als er in den Beraterstab des Präsidenten gerufen wird, wechselt er die Seiten. Er ist stolz, karrieregeil, rückgratlos, hat kein echtes Interesse an anderen und er trägt durch seine Hautfarbe „den Fluch der Herkunft“, mit sich, nämlich „gewisse Empfindlichkeiten“.

Weil er von schwarzer Hautfarbe ist, wird er auch als schwarz gehandelt, obwohl er Franzose ist "wie du und ich" (also ich nicht) und höchstens einmal in den Ferien interessehalber das Geburtsland seiner Eltern besucht. Ab wann ist man Franzose? Ab wann ist man Deutscher? Ab wann und wie lange ist man Türke? Ab man verlässt man den Gastlandstatus und wird einheimisch? Auch darüber denkt man in dem Roman nach.

Anders als seine ihm intellektuell überlegene Frau Sonia ist Osman nicht imstande, souverän auf Sticheleien bezüglich seiner angeblich afrikanischen Herkunft, die eine Angriffsfläche im politischen Konkurrenzkampf bietet, zu reagieren. Er rastet aus, verwehrt sich, ist „empfindlich“, verliert seine Position und ist untröstlich, haltlos, unwillig, sich anderswo eine unbedeutendere Existenz aufzubauen, was natürlich ohne weiteres möglich gewesen wäre.

Ein genau so untypischer Vertreter einer anderen Zielgruppe wie Osman Dieboula für die seinige, ist François Vély und er steckt im Schlamassel. Auch er ist dort angreifbar, wo er es am wenigsten erwartet hat, an seinen Wurzeln, von denen er sich zeitlebens distanziert hat und sogar eine Namensänderung von Lévy zu Vély vorgenommen hat. Aber diese Distanz, diese Nichtidentität hift ihm nicht. „Wir sind Juden, dachtest du, du kannst dem entkommen?“ fragt ihn sein Sohn. Man wirft ihm zuerst Rassismus vor, dann seine jüdische Herkunft. François ist ein reicher, überheblicher und arroganter Kotzbrocken, ein kaltes Arschloch, aber ein Rassist ist er nicht.

Osman schreibt eine öffentliche Verteidigungsrede: ein prominenter Vertreter der einen diskriminierten Gruppe, schwarz, arm, bildungsfern, mit ursprünglich niederem sozialen Ranking, stellt sich vor den prominenten Vertreter einer anderen gesellschaftlich verhassten Gruppe, jüdisch, reich, mächtig, einflussreich, das hat Brisanz, da beide Gruppierungen sich nicht im Geringsten grün sind, „Diskriminierungsneid“ benennt es die Autorin. François fühlt sich gedemütigt, weil er sich von dem weit unter ihm stehenden Diboula helfen lassen muss, doch Osmans gesunkener Stern leuchtet heller, seine politischen Aktien befinden sich wieder im Aufwind.

Romain Roller, ebenfalls aus den Banlieue, ist traumatisierter Afghanistankeimkehrer. Er findet sich nicht mehr zurecht und heuert im privaten Sicherheitsdienst im Irak an. Der Irak ähnelt insofern Afghanistan, als jeder Tag, den man überlebt, ein Erfolg ist. Diese Figur empfindet man manchmal als abgeschrieben und klischeehaft. Atticus Lish hat sie in seinem Roman "Vorbereitung auf das nächste Leben" authentischer, wirklicher auftreten lassen!

Marion Decker-Vély, ebenfalls aus kleinen Verhältnissen, ist Autorin, Journalistin, Ehefrau von François und war kurzzeitig Geliebte Romains. Im Irak, anlässlich einer von Osman Diboula organisierten Reise mit Wirtschaftsvertretern, zu denen auch François zählt, trifft man schicksalshaft aufeinander.

Die Autorin Karine Tuil trifft mit ihrem Roman "Die Zeit der Ruhelosen" den Nerv und den Ton der Zeit. Zeitlich umfasst ihre Story die Spanne kurz vor Barack Obamas Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten bis ungefähr zum Jahr 2009. Sie ist eine Autorin der nahen Gegenwart und diese Zuordnung macht ihren Roman so interessant. Sie denkt über das nach, was gerade jetzt uns begegnet und macht ihre Bemerkungen dazu.

„Die Zeit der Ruhelosen“ weist Schwächen auf, ganz klar sind ihre Helden Menschen, die kein eigenständiges Leben haben, sprich storyunabängig. Sie werden nicht allmählich entwickelt wie es zum Beispiel Nathan Hill in „Geister“ tut, sondern treten nur zutage, wie sie gebraucht werden, dann werden sie freilich auch mit einer Vita versehen und kurz erklärt, aber immer eng zweckgebunden eingesetzt. „Tiefgreifend, emotionsgeladen und kritisch“ wie eine Rezensentin schreibt? Keineswegs emotionsgeladen. Die vier Antihelden lassen einen ziemlich kalt, während man andererseits atmemlos ihren Werdegang verfolgt. Sie sind auch psychologisch nicht durchweg stimmig zusammengesetzt, aber einerlei. Der Roman ist durchdrungen von nachdenkenswerten, tollen Zitaten und Reflexionen der Autorin über das Geschehen, es ist die Handlung am Puls der Zeit, die der eigentliche Held ist.

Sprachlich läßt einen der Roman nicht direkt abheben, manche Vergleiche sind gewöhnlich, andere wieder nicht. Es ist nicht hauptsächlich „schön“ geschrieben, aber dafür klug.

Fazit: Eine kluge Schreibe, nicht ungeschickt, ein politischer Roman, ein zeitgenössischer Roman, dessen Figuren nicht ganz stimmen, die zu kurz anskizziert werden als dass man mit ihnen mitfiebern könnte, aber so aktuell, dass man unwillkürlich in den Roman gezogen wird.

Kategorie: Zeitgenössische Literatur/anspruchsvoll
Verlag, Ullstein, 2017

Kommentare

Steve Kaminski kommentierte am 19. März 2017 um 09:02

Eine aussagekräftige Rezi. Klingt spannend!