Rezension

Allein erziehender Vater anno 1954

Der Uhrmacher von Everton - Georges Simenon

Der Uhrmacher von Everton
von Georges Simenon

Bewertet mit 4.5 Sternen

Dave Galloway ist Uhrmacher in der US-Kleinstadt Everton. Er repariert und restauriert alles, was kompliziert, fragil und mechanisch ist, und fährt dazu auch mit einer kleinen Werkstatt in seinem Transporter zu den Kunden. In der Wohnung über seiner Werkstatt lebt er mit Sohn Ben, den er allein versorgt, seit Ben circa ein halbes Jahr alt war. Nur wegen der Wohnung nah bei seiner Werkstatt ist Dave mit Ben überhaupt nach Everton gezogen. Daves Leben wird von seinem Beruf und seinen Vaterpflichten bestimmt. Außer dem Training der Baseballmannschaft zuzuschauen ist sein einziges Vergnügen das regelmäßige  Backgammon-Spiel mit Musak, einem finster wirkenden Einwanderer, der auch als Handwerker arbeitet. Der heutige Spieleabend wird der letzte sorglose Abend für Dave sein. Unübersehbar braut sich über ihm eine Katastrophe zusammen; denn am nächsten Morgen wird Ben mit Daves Lieferwagen abgehauen sein.

Dave hat offenbar schon früher darüber gegrübelt, ob Ben glücklich ist und ob der Junge sich eher wie er selbst oder wie seine Ex-Frau Ruth entwickeln wird. Da Ben sein Verschwinden offensichtlich kühl und perfekt vorbereitet hat, muss sich Dave nun fragen, ob ihm in der Entwicklung seines Sohnes etwas Entscheidendes entgangen ist.

Simenon erzählt in wenigen Worten aus Daves Perspektive von der besonderen Vater-Sohn-Beziehung, aber auch von Daves Freundschaft mit Musak. Wie ein Maler zeichnet der Autor mit wenigen Pinselstrichen ein nüchternes Bild seiner Figuren und schafft so eine Stimmung, die die kommende Bedrohung von Anfang an spüren lässt. Als Leser ist man der Handlung stets ein paar Schritte voraus, während Dave lange am Bild seines Sohnes festhält, das von den Ereignissen längst überholt wurde. Dave glaubt noch immer, er müsste der Polizei  und der Presse seinen Sohn erklären, während Ben längst Fakten geschaffen hat.

In Simenons Reihe der „Romans durs“ entstand „Der Uhrmacher von Everton“ 1954 in den USA und wurde im selben Jahr veröffentlicht. Im aufschlussreichen Nachwort interpretiert der Autor Philip Haibach den „Uhrmacher“ als eine umgedrehte Road-Novel mit einer in ihrer Heimat fest verwurzelten Hauptfigur. Mein erster Nicht-Maigret von Simenon war „Das Haus am Kanal“, ich vermute damals in der Diogenes-Ausgabe. Meine Verblüffung, wie genau Simenon den Alltag  kleiner Leute beschreibt, hat sich bei diesem Buch wiederholt, hier verstärkt durch die Sicht der 50er Jahre, als ein alleinerziehender Vater noch lange nicht so selbstverständlich war, wie Simenon Dave darstellt.