Rezension

Alles nichts oder

Die Einsamkeit der Seevögel - Gøhril Gabrielsen

Die Einsamkeit der Seevögel
von Gøhril Gabrielsen

Bewertet mit 3 Sternen

Vor zwei Wochen besuchte ich die Veranstaltung einer kleinen Buchhandlung – Buchhändlerinnen stellten dort kurz vor Weihnachten ihre diesjährigen literarischen Lieblinge vor. Unter anderem auch „Die Einsamkeit der Seevögel“ von der norwegischen Autorin Gøhril Gabrielsen. Die Beschreibung klang für mich so ungewöhnlich und spannend, so anziehend-anders, dass ich direkt zugreifen musste.

Mir war klar, dass es sich um eines dieser Bücher handelt, die auf unterschiedliche Weise rezipiert werden können, vergleichbar vielleicht mit Haushofers „Die Wand“. Die 174 Seite kurze Geschichte kann als Begegnung mit dem eigenen Selbst gelesen werden. Oder als Parabel auf die Unwägbarkeiten des Lebens. Auch als mystischer Thriller. Oder eben: Alles zusammen.

Eine Wissenschaftlerin reist mitten im Winter an den nördlichsten Rand Norwegens, um dort – in völliger Abgeschiedenheit – die Einflüsse klimatischer Veränderungen auf die Seevögel zu untersuchen. Auf sich selbst zurückgeworfen, sieht sie sich mit ihren inneren Dämonen konfrontiert.

Alles beginnt ganz nüchtern und sachlich: In einer Art Tagebuchform teilt eine namenlose Protagonistin dem Leser das Ziel ihrer Reise mit. Auf den ersten Blick scheint diese gut organisiert. Zumal geplant ist, dass der Freund der jungen Frau bald nachkommen soll. Schon bald wird klar, dass die Umstände der Expedition durchaus Anlass zur Sorge geben. Denn die Frau ist nicht nur auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ex-Mann, sondern hat auch eine kleine Tochter, die sie daheim zurückgelassen hat. Zwangsläufig keimen bald dunkle Gefühle in der Protagonistin auf. Zunehmend verbeißt sie sich in der düsteren Vorgeschichte ihres Übergangsdomizils, in dem sich vor langer Zeit eine Familientragödie ereignet hat. Schließlich geschehen seltsame Dinge. Und die Frau zweifelt, ob sie wirklich alleine in der Wildnis ist.

Ach, es ist schade. Denn schlussendlich war es nicht das erwartete Highlight: Sprachlich extrem gut aufgestellt, mit einer präzisen Beobachtungsgabe und teilweise wunderbar poetischem Ausdruck, hat mich die Handlung relativ kalt gelassen. Das von Wahn und Wirklichkeit durchwebte Kammerspiel läuft aus meiner Sicht zu durchschaubar auf einen Selbstverlust der Protagonistin hinaus. Die Übergänge – von Naturgewalten zu den seelischen Abgründen, von bedrückender Enge in winterlicher Weite -, wirken allzu abgekartet. Vor allem die Passagen, in denen sich die Protagonistin das harte Leben der vormaligen Siedler ausmalt und es mit ihrer eigenen Situation vergleicht, kamen mir gezwungen in die Handlung hineingepfriemelt vor.

Und mir wollte es so gar nicht gelingen, mich in die Hauptfigur einzufühlen. In vielen Dingen war sie mir nicht nur fremd, sondern regelrecht unsympathisch. Vielleicht fehlte mir schlicht das Verständnis für ihren Grundkonflikt: Warum überlässt sie ihr Kind schutzlos dem offenbar gestörten Ex-Mann?

Durch die Unzuverlässigkeit der Erzählerin und den sprachlichen Schliff hält die Geschichte bis zuletzt eine gewisse Grundspannung aufrecht. Die Autorin richtet abwechselnd den Blick auf die äußeren Bedingungen und den inneren, zunehmend aufgewühlten Zustand ihrer Figur. Realität und Fantasie verschwimmen dabei teilweise.

Gewillt, alles zu verstehen, jede Doppeldeutigkeit mitzubekommen, fragt man sich: Besteht eine echte Bedrohung? Oder ist alles nur Einbildung? Und macht das überhaupt einen Unterscheid in der totalen Isolation? Ist die Frau schon zu Beginn psychisch angeschlagen? Wird sie mit der Zeit leicht wahnsinnig oder findet sie – im Gegenteil – zu sich selbst? Ist eine übersinnliche Komponente im Spiel? Letzten Endes – anders kann es auch gar nicht sein – muss sich der Leser diese Fragen selbst beantworten. Mir persönlich fehlte der Wille dies zu tun, da mich das Schicksal der namenlosen Forscherin einfach nicht packen konnte.

Fazit: Geschliffene Sprache kombiniert mit dem Gefühl latenter Unruhe, machen „Die Einsamkeit der Seevögel“ für mich zu einem interessanten, aber nicht überwältigendem Lese-Genuss. Mich hat das Buch zwar beschäftigt, berührt oder nachhaltig beeindruckt hat es mich aber nicht. Ausprobieren!