Rezension

Alltägliches der 60er in teils gekünstelter Sprache

Wilde grüne Stadt - Marius Hulpe

Wilde grüne Stadt
von Marius Hulpe

Bewertet mit 4 Sternen

In Zeiten des Schah-Regimes handelt sich 1960 der junge Unteroffizier Reza Ärger mit seinem General ein. Die Folgen sind ein Nasen- und Kieferbruch und Rezas Verbannung in die Bundesrepublik als Agent seines Landes. Klug, sprachbegabt und gutaussehend, scheint er der ideale Mann für seinen Auftrag zu sein. Reza, dessen Vater Weinbauer im Hamadaner Land ist, soll Landwirtschaft und Agrarmaschinenbau studieren und seinen Lernstoff in allen Details an einen iranischen Mittelsmann weitergeben. In märchenhaftem Schnelldurchlauf wird dem jungen Iraner nach seiner Ankunft in wenigen Monaten ein deutsch-französisches Abitur verpasst. Bald findet er sich an einer winzigen Hochschule irgendwo in der westfälischen Provinz wieder (z. B. in Soest); seine Kommilitonen sind Bauernkinder, die später den elterlichen Hof übernehmen werden. Rezas Wege kreuzen in der gemeinsamen Clique den von Clara Kemper. Clara träumt von einem anderen Lebensweg als dem, der sich Frauen in der katholischen Provinz anzubieten scheint. Sie folgt jedoch dem Zwang ihrer Eltern und arbeitet nach einer Kürschnerlehre im Familienbetrieb. Als Clara mit 18 schwanger wird, kommen mehrere Männer - aus nah und fern - als Vater infrage. Clara gibt ihrer Tochter einen jüdischen Vornamen - und trägt als allein erziehende Mutter gelassen die Verachtung im Ort. Zur gleichen Zeit wie Clara bringt auch Rezas derzeitige Freundin ein Kind zur Welt. Dritte Hauptfigur des mit wechselndem Fokus in verschachtelten Episoden erzählten Romans ist Claras zweites Kind Niklas, das 10 Jahre nach seiner Schwester Sheva geboren wird – und dem im Gegensatz zu ihr jeder ansieht, wer sein Vater ist.

Reza sieht sich weder als zukünftiger Landwirtschaftsexperte auf internationaler Ebene, noch entwickelt er Ziele, die sich im Betrieb seiner Eltern im Iran umsetzen ließen. Studenten wie Reza gab es damals zahlreiche an deutschen Unis, die die Illusion einer Rückkehr in die Heimat jedoch schneller aufgaben als er. Frustriert vom fehlenden Praxisbezug im Studium marschiert Reza eine Dorfstraße entlang und landet als Praktikant beim altersgebeugten Bauern Erwin, der Mitte der 60er (!) über Mägde und Knechte verfügt und wie im Märchen mit dem Ochsengespann pflügt. Clara mischt indessen ihre Karten wieder einmal neu und kauft ihre Urlaubsbekanntschaft Cosmin aus der rumänischen Diktatur frei, um Sheva einen Vater zu beschaffen. Cosmin und Reza erhalten beide ihre Aufenthaltserlaubnis durch Heirat mit einer Deutschen. Die klassische Rollenverteilung wird von den Paaren jedoch nicht infrage gestellt, obwohl Frauen in Claras Generation Berufsausbildungen und Diplome aufzuweisen hatten. Warum Rezas Frau Bettina nicht in ihrem Beruf arbeitet und weder Cosmin noch Reza Haushalt und Kinderbetreuung übernehmen, die Frage wird nicht gestellt. Den ersten größeren Konflikt zwischen Cosmin, Sheva und Clara löst Clara durch Cosmins Rauswurf. Bei den Kempers wartet außer der kapriziösen Sheva ein für sein Alter verhaltensauffälliger Niklas, zwei unter vielen interessanten Handlungsfäden, die in einer Sackgasse enden. Über Erziehungsprobleme wird ebenso eisern geschwiegen wie über den Strukturwandel im Pelzhandel. Dass Clara an Wendepunkten in ihrem Leben stets schwanger wird, empfinde ich als reichlich unflexibles Frauenbild, das der 1982 geborene Autor hier in der westfälischen Provinz der 70er ansiedelt.

„Wilde grüne Stadt“ spielt zwischen 1960 und 2011 und wurde als Debüt-Roman zum Bloggerpreis 2019 eingereicht. Das rätselhafte Buchcover in opulentem Gold symbolisiert eine Begegnung von Kulturen und Religionen, von Märchen und Realität und mit einer Hauptfigur, die sich lange nicht in die Karten sehen lassen will. Marius Hulpe porträtiert mit der berufstätigen Mutter Clara, dem rumänischen Aussiedler Cosmin und dem iranischen Studenten Reza drei für die 70er Jahre charakteristische Säulen deutschen Alltags, die alle Beachtung in der Literatur verdienen. Er zeigt Schattierungen deutscher Provinz, samt nicht reflektierter Nazi-Vergangenheit und zunehmenden Ressentiments gegen Einwanderer, die aussehen wie Reza und seine Kinder.

Übernahmekonflikte in Familienbetrieben haben mich aufgrund ihrer Allgemeingültigkeit und der vielen Variablen schon immer interessiert. Wer übernimmt den Betrieb, wer ist dafür qualifiziert? In der Krise verkaufen oder umstellen? Was, wenn der Betrieb zugleich Alterssicherung der Elterngeneration ist? Die unverbrauchte Plot-Idee klingt vielversprechend. Eine extreme, willkürlich wirkende Verschachtelung sehr kurzer Episoden lässt jedoch nicht allen Figuren Raum für eine glaubwürdige Entwicklung innerhalb ihrer Epoche und ihres Lebensalters. Handlungsfäden enden, Personen treten sang- und klanglos ab, Gespräche bleiben ungeführt. Rezas Mutter, als Frau eines iranischen Weinbauern zu Beginn des vorigen Jahrhunderts geboren, äußert sich mit rund 50 Jahren explizit politisch, in einer solchen Szene fehlt mir z. B. ein plausibles Fundament für das Handeln der Figuren. Neben klischeehaften Bildern von Frauen und Landwirtschaft erschwert ein für die Ereignisse zu gekünsteltes Sprachniveau den Zugang zu Marius Hulpes Debüt.