Rezension

Alltäglichkeiten

Da vorne wartet die Zeit - Lilly Lindner

Da vorne wartet die Zeit
von Lilly Lindner

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt:
Eine Stadt am Waldrand, irgendwo auf dieser Welt, bewohnt von Menschen, wie sie alltäglicher nicht sein könnten. Sie leben zusammen, jeder für sich selbst, leben, lieben und sterben – doch letztlich ist alles verbunden, durch einen seidenen Faden, der das Gefüge zusammenhält, die Leben untrennbar macht. Eine Entführungsserie, die die Stadt in Atem hält, ein Kriminalpolizist, der Antworten sucht, ein kleiner Junge, der seine Mutter vermisst, eine Mutter, die spurlos verschwindet und ein Mädchen, welches die ganze Wahrheit kennt. Sie wohnen alle in dieser Stadt am Waldrand, kennen sich womöglich, teilen ein Schicksal – jeder auf seine Weise. Diese Begebenheit ist aber nicht das einzige Konstrukt, viele solcher Geschichte findet man in der Stadt vor, eines haben nahezu alle gemeinsam – sie verlieren sich in der Zeit, bis sie anhält und dann, dann wartet sie da vorne, die Zeit.

Meine Meinung:
Mir war nicht ganz klar, was ich mir von diesem Buch erwarten sollte – eine Stadt, nun gut, sie gibt vielen Menschen ein Schicksal und formt deren Leben, aber wie möchte man diese gewaltige Kraft in eine Geschichte pressen – gesagt sei, obwohl es vielleicht ein wenig den Anschein von Unmöglichkeit hat, gelingt es Lilly Lindner mit Bravour.

Mehr als 20 Geschichte über Menschen finden ihren Platz, die meisten miteinander verstrickt, wenn es auch nicht gleich so offensichtlich ist und man erst einmal von anderen Schicksalen gefangen genommen wird, bis man wieder zu einem anderen zurückkehrt und die Gegebenheiten als Gesamtes sehen kann. So viele Menschen, bedeuten natürlich auch sehr viele Name und ich gebe es gerne zu, da bin ich dann und wann gestolpert, musste zurückblättern, weil ich die einzelnen Personen jetzt nicht mehr unbedingt einordnen konnte, dass sie vorkamen, war sofort im Gedächtnis, nur ihre Geschichte, die verlor sich ein wenig in diesem ganzen Geschichtengeflecht.

Und eigentlich gibt Lilly Lindner einen Lesetipp für das Buch, auch wenn er erst viel zu spät im Buch auftaucht:
Und während Helena sich erinnert, an all diese Menschen, die sie nur von den Worten aus ein paar bedruckten Seiten kennt, da fällt ihr mit einem Mal auf, dass diese Geschichten sie genau so berühren, wie sie geschrieben wurden – nicht als Buch, das man in einem Atemzug durchliest, nicht als Text, den man mit Leichtigkeit verschlingt, sondern Geschichte für Geschichte, ein ganzes Leben, verfangen in einem großen Ganzen, mit einer Erkenntnis, zum Ende hin so schön und traurig zugleich, dass fernab der Zeit und der Stelle ein jedes Wort von Hoffnung spricht. (Seite 176)
Und vielleicht sollte man so genau durch das Buch gehen, scheibchenweise, nicht in einem Rutsch durch, weil es stimmt, die einzelnen Schicksale gehen ein wenig unter, wenn man das Buch durchliest, ohne Pause. Der Schrecken verliert sich, weil alles irgendwie ein bisschen traurig ist und dann die Traurigkeit im Einzelnen verloren geht. Ich würde wirklich raten, Kapitel für Kapitel zu lesen, Pausen einzulegen, die Worte auf einen wirken zu lassen, so kann das Buch sicherlich eine Gewalt entfalten, die unbeschreiblich ist.

Naja, jetzt habe ich das Buch aber in einem durchgelesen, war es trotzdem gut? Natürlich war es gut, ganz außergewöhnlich sogar. Nach den ersten 20 Seiten habe ich aufgehört, Textstellen markieren zu wollen, die mich berührten und fesselten, weil letztlich hätte ich jeden Satz kennzeichnen müssen, so viel traurige Schönheit findet man in den Geschichten vor. Obwohl traurig? Es mag schon stimmen, es sterben die Menschen zuhauf, aber es gibt auch diese kleinen Momente, wo eine Erzählung einfach nur schön ist, einen ein Lächeln auf die Lippen zaubert, was sich erst einmal nicht mehr so schnell wegwischen lässt.

Es bleibt der Tod aber doch ein übergreifendes Thema und der Tod, er gehört nun einmal zum Leben. Wir alle schauen Nachrichten, hören Schreckensbericht, aber ich zumindest kann sagen, viel erreicht mich gar nicht mehr, weil es so weit entfernt ist, mit mir nichts zu tun hat und warum soll ich meinen Kopf über etwas zerbrechen, was ich nicht ändern kann. Hier ist es so, dass man die Auswirkungen der Schreckensmitteilungen präsentiert bekommt. Eine Mutter verschwindet, ein Polizist sucht danach und ein Kind vermisst. Eine Tochter stirbt, ein Vater trauert. Durch Lilly Lindners Geschichten sieht man hinter die Tragödie und sieht, wie weite Kreise ein Schicksalsschlag in Wirklichkeit zieht und es hat sich ein Kloß in meinen Hals geschoben, während ich mich durch all diese Leben gelesen habe.

Ich liebe Lilly Lindners Bücher, was kein Geheimnis ist, aber im Gegensatz zu ihrem Romandebüt „Bevor ich falle“, welches manchmal noch etwas ungelenk war, finde ich „Da vorne wartet die Zeit“ rundum gelungen. Kritik, wenn man sie suchen mag, sind nur die Vielzahl an Namen, die man sich einfach nicht merken kann, aber gut, Papier ist geduldig und alles lässt sich nachschlagen.

Fazit:
Ein Kaleidoskop menschlicher Existenzen, die untrennbar miteinander verbunden sind und doch alle ein eigenes Schicksal zu tragen haben. Zeit ist ein großes Überthema in diesem Buch, Zeit wie sie rennt, steht und auf einen wartet. Ich bin mir sicher, noch nicht alles komplett in mich aufgenommen zu haben, was ich da las, es wird ein zweites oder drittes Treffen mit dem Buch brauchen, um alles zu verstehen. Nach dem ersten Lesen lässt sich nur sagen: In meinem Kopf breitete sich eine dumpfe Schwere aus, die Gedanken tanzten auf den Drahtseil und das Herz, es schlug außerhalb des normalen Rhythmus. Dieses Buch ist viel mehr als ein paar Geschichten, dieses Buch ist pulsierendes Leben!