Rezension

Als Hysterie noch eine Krankheit war

Die Tanzenden - Victoria Mas

Die Tanzenden
von Victoria Mas

Paris, 1885: Die Geisteskranken des berühmt-berüchtigten Pariser Krankenhauses „Saint-Salpetrière“ bereiten sich auf das Highlight des Jahres vor – den Bal des Folles. Ein Ereignis, bei dem die gehobene Pariser Gesellschaft sich einem unwürdigen Spektakel aussetzt, nämlich im Rahmen eines Balls den nervenkranken Frauen zu begegnen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt und dennoch mit Faszination betrachtet werden. Die junge Eugénie Cléry, die wegen ihrer spiritistischen Begabung von der eigenen Familie eingeliefert wird, will sich dieser menschenverachtenden Behandlung nicht beugen und plant die Flucht. Hilfe erhält sie allerdings von einer unerwarteten Stelle…

„Die Tanzenden“ ist mir in erster Linie durch das wunderbare pastellig gestaltete Cover, das so viel Leichtigkeit und Weiblichkeit ausdrückt, aufgefallen. Der Klappentext hat mich zusätzlich neugierig gemacht. Ich musste den Roman lesen. Victoria Mas ist ein für mich herausragender Roman gelungen. Sie entführt uns in das 19. Jahrhundert, in dem auch durch Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, die Menschen anfangen sich die Erforschung der Psyche zu interessieren und die Betroffenen wie Versuchstiere erniedrigenden Torturen aussetzen, um die Grenzen des Wissens zu überwinden. Schauplatz ist dabei eines der berüchtigsten Heilanstalten Europas. Victoria Mas nimmt uns mit in jene Zeit und lässt uns hinter die Kulissen blicken. Es ist eine spannende Reise, die zum einen authentische Bilder zeichnet, aber auch erschütternde Einzelschicksale präsentiert. Denn die Opfer sind überwiegend Frauen: die Hysterie galt damals als Nervenkrankheit, wer sich anpassen wollte oder gar ein eigenes Denken entwickelte, konnte schnell ausgegrenzt oder als nervenkrank gelten.

Im Mittelpunkt des Romans stehen drei Frauen, die unterschiedlich sind, aber alle drei Opfer einer patriarchalischen Gesellschaft werden, in der eigenes Denken, selbstbewusstes Auftreten oder Auflehnung gegen die männliche Dominanz unerwünscht waren.

Eugénie ist eine fortschrittlich denkende, gebildete junge Frau, die aus den Grenzen des damaligen weiblichen Rollenverständnisses ausbrechen möchte. Sie wird von der eigenen Familie in die Heilanstalt eingewiesen, als sie ihre Neigung und Begabung zur Spritualität entdeckt.

Louise hingegen ist schon länger in der Heilanstalt. Ihr Verhalten ist die Folge eines psychischen erlittenen Traumas, das ihr durch männliche Gewalt angetan wurde. Sie träumt davon, berühmt zu werden und durch Heirat aus der Heilanstalt entlassen zu werden.

Geneviève ist Aufseherin in der Heilanstalt. Sie ist selbst durch den Tod der jüngeren Schwester traumatisiert und ein wichtiger Bezugspunkt vieler Frauen. Allerdings betrachtet sie die Frauen und die Geschehnisse eher aus der Distanz und wird dadurch Teil der männlich geprägten Unterdrückungsmechanismen. Aber auch sie wird Opfer, als sie erkennen muss, dass ihre Meinung im Grunde nichts zählt.

Alle drei Frauen haben mich auf ihre Art und Weise berührt. Victoria Mas‘ Erzählstil ist sehr feinfühlig, aber gleichzeitig authentisch. Die Geschichte ist überwiegend im Präsens geschrieben. Dadurch hatte ich das Gefühl mich mitten in der Erzählung zu befinden und die Handlung direkt mitzuverfolgen. Die erzählten Geschichten sind erschreckend, aber auch mutig erzählt. Für mich war es beklemmend zu lesen, wie Frauen in dieser Zeit behandelt und Repressalien ausgesetzt wurden, um die Forschung voranzutreiben. Allerdings ist keine der handelnden Personen völlig hilflos, jede ist mutig und entschlossen sich den Gegebenheiten entgegenzustellen. Ein Punkt Abzug allerdings muss ich geben, da ich mich mit dem von Eugénie betriebenen Spiritismus nicht so recht anfreunden konnte. Der Fakt ist zwar sehr gut in die Handlung eingewoben, aber wirkt auf mich fehlplatziert, um nicht zu sagen unglaubwürdig. Eugénies mutiger Charakter und selbstbewusstes Auftreten hätten womöglich damals schon ausgereicht, um sie in der damaligen Gesellschaft für nervenkrank zu halten.

Mein Fazit: Ein empathischer, aufwühlender Roman, über eine Zeit, in der selbstbewusste Frauen unterdrückt wurden. Und eine Geschichte über drei Frauen, die versuchen aus einem menschenverachtenden System auszubrechen - mutig, authentisch und feinfühlig erzählt.