Rezension

Am Abgrund

Abgrund - Yrsa Sigurdardóttir

Abgrund
von Yrsa Sigurdardottir

Bewertet mit 5 Sternen

Auf einer alten Hinrichtungsstätte auf einem Lavafeld in Island wird ein Toter gefunden. Die Leiche ist erhängt und blickt direkt auf den Präsidentensitz. In der Wohnung des Erhängten befindet sich ein kleiner Junge, der eindeutig keinen Bezug zu ihm hat und ohne Erinnerung ist. Kommissar Huldar und Psychologin Freyja ermitteln in ihrem vierten Fall.

"Abgrund" ist der vierte Band der Krimireihe um Kommissar Huldar und Kinderpsychologin Freyja. Zwar ist es angenehmer, wenn man die Bände der Reihe nach liest, um ein Gefühl für die Figuren und das Geschehen zu bekommen, dennoch denke ich, dass sich dieser Fall ohne Vorkenntnisse gut lesen lässt.

Es fängt mit einem mysteriösen Leichenfund auf einer alten Hinrichtungsstätte auf einem Lavafeld an. Der Leser betritt somit sofort die bizarre isländische Landschaft und ist gleich im Geschehen drin. Der Tote ist erhängt und mit einem Nagel wurde ihm eine Nachricht in den Brustkorb gerammt. Zudem gilt es einen politischen Zwischenfall zu verhindern, weil der Tatort  in der Nähe vom Präsidentenpalast ist. 

Hier tritt die isländische Polizei auf den Plan und gemeinsam mit den Beamten hat man alle Hände voll zutun. Die Leiche muss entfernt, Spuren bewahrt und alles rechtzeitig erledigt sein, bevor hoher politischer Besuch in der Residenz eintrifft. 

Zwar geht die Polizei zuerst von einem Selbstmord aus, doch die Spuren deuten bald in eine andere Richtung. Außerdem ist da dieser kleine Junge in der Wohnung des Toten, der scheinbar keinen Bezug zu dem Verstorbenen hat.

Die Ausgangslage hat Yrsa Sigurdardóttir erneut exzellent eingefädelt. Die Autorin stellt Leser und Figuren vor rätselhafte Puzzles, für die es auf den ersten Blick kaum eine Lösung gibt. Sie entführt auf ein glattes Lavafeld, das scheinbar aufgrund der makellosen Beschaffenheit keinen Spalt für die Lösung des Rätsels zulässt. Erst wenn man es detailliert betrachtet, sieht man die feinen Ritzen, versteckten Nischen und Schlieren, die den Weg weisen.

Die Autorin hat ein Gespür für die Gegenwart und bezieht neue Medien in ihren Kriminalfall ein. Dieser moderne, kreative Zugang zum Verbrechen imponiert mir sehr, weil er meinem Empfinden nach eher selten auf glaubhafte Art in Krimis umgesetzt ist. 

Die Handlung entspricht meiner Ansicht nach einem klassischen Krimi, wobei die Ermittlungsarbeit an erster Stelle steht. Insgesamt verläuft der Fall ruhig, entblößt dabei dunkle Abgründe, die ziemlich heftig sind. Daneben sorgt die Autorin für unvorhersehbare Wenden, kantige Puzzleteile und einen runden Abschluss, der gleichzeitig Hoffnung auf einen weiteren Fall mit Huldar und Freyja weckt.

Außergewöhnliches Merkmal sind in "Abgrund" - wie in der gesamten Reihe - die Figuren Huldar und Freyja, die ich dank ihrer normalen Erscheinung von Anfang an als überaus sympathisch und überzeugend empfinde.

Die Protagonisten sind authentisch dargestellt. Sie wirken wie aus dem Alltag gegriffen, und haben neben manch nervenden beruflichen Routinen und Gegebenheiten, mit sich selbst zutun. Freyja sucht derzeit nach einer Wohnung und Huldar ist im Kommissariat voll eingespannt. Dabei gibt es auf keiner Ebene heroisches Gebaren oder künstliche Konflikte - sondern ein alltägliches Leben, das sich beruflich mit dem Abgrund der Gesellschaft auseinandersetzt.

Damit komme ich zum Island-Flair, das ebenso in diesem Krimi spürbar ist. Island wirkt mit seiner Lavalandschaft im kühlen Norden regelrecht bizarr, was selbst manche Eigenheiten der Isländer betrifft. Sigurdardóttir setzt ihre Heimat gekonnt in Szene, weckt Interesse und zeigt Unterschiede, die für mich absolut fesselnd sind.

Letztendlich bleibt ein beeindruckender Krimi am Abgrund der isländischen Gesellschaft, der mit den authentischen Figuren, der bizarren Landschaft, der glaubwürdigen Handlung und dem aparten Einblick zum Vergnügen wird. 

Die Reihe:
1) DNA 
2) SOG 
3) R.I.P. 
4) ABGRUND