Rezension

Anderssein

Was ich euch nicht erzählte - Celeste Ng

Was ich euch nicht erzählte
von Celeste Ng

Bewertet mit 4 Sternen

In Celeste Ngs Debütroman “Was ich euch nicht erzählte“ geht es um eine Familie in einer Kleinstadt in Ohio im Jahr 1977. James, der Vater ist Amerikaner mit chinesischen Wurzeln und unterrichtet am örtlichen College amerikanische Geschichte. Seine Frau Marilyn ist eine weiße Amerikanerin, die ihr Medizinstudium wegen ihrer Schwangerschaft abbrechen musste und genau das wurde, was sie immer abgelehnt hatte: Hausfrau und Mutter. Außer ihrem konkurrenzlosen Liebling Lydia haben sie noch den älteren Sohn Nathan und die 11jährige Hannah. Eines Morgens erscheint Lydia nicht zum Frühstück. Zwei Tage später findet die Polizei ihre Leiche in einem See. Ein Unfall, Selbstmord oder Mord?

Vom ersten Satz an weiß der Leser, dass Lydia tot ist. Es geht der Autorin also nicht um eine übliche Krimi- oder Thrillerhandlung, auch wenn der Roman in den USA als “crime thriller“ bezeichnet wird. Es geht um das Wie und Warum. Sehr schnell wird deutlich, dass in dieser Familie so einiges nicht stimmt. Jeder hat hier ein Geheimnis, das er mit niemand teilt. Nathan  weiß einiges mehr über das Leben seiner Schwester als seine Eltern. Die letzten drei Monate vor ihrem Tod hat sie sich mit Jack, einem dubiosen jungen Mann aus der Nachbarschaft getroffen, den Nathan für den Schuldigen hält. Die kleine Hannah verfügt in ihrer Rolle als Beobachterin, die alle übersehen, über fast telepathische Fähigkeiten. Sie weiß genau, was in Lydia vorgeht und  hat ihre Schwester in der bewussten Nacht weggehen sehen. Weder Nathan noch Hannah teilen ihr Wissen mit den Eltern oder der Polizei.

Erzählt wird die Geschichte mit ständig wechselnden Perspektiven und auf verschiedenen Zeitebenen, die auch die Vergangenheit der Eltern einschließen. Der Leser  kennt die Gedanken und Gefühle der Protagonisten und verfügt über  einen Informationsvorsprang gegenüber den Beteiligten. Nur der Leser erfährt am Ende, warum Lydia wirklich starb. Die Eltern und Geschwister gewinnen nur bis zum einem gewissen Grad neue Erkenntnisse. Der Vater versteht, dass sich seine Hoffnung, seine Kinder würden als Repräsentanten der dritten Einwanderergeneration akzeptierte und voll integrierte Mitglieder der Gesellschaft sein, nicht erfüllt hat. Er hat sich ein Leben lang mit denselben Klischees und Beleidigungen konfrontiert gesehen: Schlitzauge, begleitet von den entsprechenden Gesten, Frühlingsrollen, Kegelhüte… (z.B. S. 190)  Am längsten erliegt die Mutter der Illusion, eine rundum glückliche, brillante Tochter zu haben, der eine große Zukunft als Ärztin oder Naturwissenschaftlerin bevorsteht.

Neben der Thematik der gestörten Kommunikation, die auf viele Familien zutrifft, sind dies die  spannend und berührend umgesetzten Themen des Romans: zum einen der allgegenwärtige Rassismus im Amerika der damaligen Zeit und die Ausgrenzung von gemischtrassigen Familien, von allen, die anders sind und anders aussehen und die Verheerungen, die Eltern mit einem falschen Verständnis von Erziehung bei ihren Kindern anrichten. Lydia leidet sehr unter dem von den Eltern ausgeübten Druck. Sogar jedes einzelne Geschenk ist eine unausgesprochene Erwartung, fordert ein bestimmtes Verhalten ein. Lydia weiß, "dass Aufmerksamkeit mit Erwartungen einherging, die - wie Schneeflocken -  in der Luft trieben, sich niederließen und einen dann mit ihrem Gewicht erdrückten." (S. 256). Ihr Tod zerstört die nach außen intakte Familie vollends. Kann es für die Überlebenden einen Neuanfang geben?

Mir hat dieses berührende Psychogramm einer nicht funktionierenden Familie sehr gut gefallen.