Rezension

Annäherung eines Altphilologen an die Flüchtlingsfrage

Gehen, ging, gegangen
von Jenny Erpenbeck

~~Die Regisseurin und Autorin Jenny Erpenbeck ist im deutschsprachigen Literaturbetrieb keine Unbekannte, wurden ihre Werke doch bereits seit 2001 mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und auch ihr aktueller Roman „Gehen, ging, gegangen“ hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Allerdings ist dies nicht weiter verwunderlich, stellt Erpenbeck doch in diesem Roman ein Thema in den Mittelpunkt, das seit geraumer Zeit nicht nur für Schlagzeilen, sondern auch für große Emotionen sorgt.

Im Zentrum der Handlung steht der Altphilologe Richard, Professor im Ruhestand, verwitwet und kinderlos, der mutterseelenallein am Rande Ostberlins ein Haus am See bewohnt. Ohne Kontakte, ohne Ansprache, seine einzige Gesellschaft ist der Fernseher. Die Tage plätschern dahin, angefüllt mit Banalitäten, die sein Leben bestimmen, und mittlerweile fehlen ihm auch die offenen Augen für das, was um ihn herum passiert.

So ist es kein Wunder, dass er bei einem Spaziergang durch die Stadt an einer Demonstration am Alexanderplatz vorbeiläuft, ohne zu registrieren, was dort gerade vor sich geht. Erst die Nachrichtensendung am gleichen Abend führt ihm vor Augen, was gerade in seiner Stadt geschieht: Flüchtlinge aus Afrika campieren in Zelten, um auf ihre hoffnungslose Situation aufmerksam zu machen. Heimatlos, ohne Arbeit, ständig von Abschiebung bedroht.

Richards Interesse an den Lebensbedingungen dieser Menschen ist geweckt, wobei aber nicht Mitgefühl der auslösende Faktor ist. Vielmehr ist es sein untätiges Leben als Ruheständler und die Reflexion über die Verluste in seinem Leben, die ihn aktiv werden lässt. Ganz der Akademiker versucht er natürlich mit einer wissenschaftlichen Systematik seinen Informationsbedarf zu decken. Und so sucht er mit einem Fragenkatalog ausgestattet den Dialog mit den Flüchtlingen. Anfangs ist die vorsichtige Annäherung eher einseitig, die Gespräche drehen sich fast ausschließlich um das Warum der Flucht, aber die daraus entstehenden Dialoge geben Richard auch Denkanstöße, sein Leben im Verlauf der Zeit, in Vergangenheit und Gegenwart, kritisch zu beleuchten. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

Die Hauptfigur ist ein komischer Kauz, ganz der verkopfte Altphilologe, der im Denken der Antike verhaftet ist. So zieht er immer wieder Parallelen von den Flüchtlingen zu mythologischen Heldenfiguren und benamt diese auch entsprechend. Stellenweise sehr verkopft nimmt diese Überfütterung mit humanistischem Gedankengut dem Thema zwar einiges an politischer Brisanz, zeigt aber auch, dass sich eine anfangs eher intellektuelle und emotionslose Annäherung durchaus im Laufe der Zeit zu gegenseitigem Verstehen und „mit leiden“ entwickeln kann und zwar in beiden Richtungen.