Rezension

Ansprechende Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte

Letzte Fahrt nach Königsberg - Ulrich Trebbin

Letzte Fahrt nach Königsberg
von Ulrich Trebbin

Bewertet mit 4.5 Sternen

Deine Heimat ist Vergangenheit

„Aber irgendwie hatten sie noch ein hinlänglich normales Leben führen können – oder wenigstens die Illusion davon. Und jetzt die totale Zerstörung einer ganzen Welt. Ihrer Welt. Mit den Mauern der Stadt waren auch die ihrer Kindheit und Jugend eingestürzt.“

 

Inhalt

 

Geboren und aufgewachsen in der wunderschönen Stadt Königsberg, nahe der Ostseeküste wächst Ella in einem gut situierten Elternhaus auf. Der Vater erfolgreicher Weinhändler, die älteren Geschwister an höheren Schulen und im Haushalt gibt es Personal. Unbeschwert und glücklich erlebt Ella ihre Jugend, genießt ihr Leben, trifft sich mit Freunden und entdeckt ihre Welt mit den Augen einer aufblühenden jungen Frau. Doch die Schatten ihrer Zeit verdunkeln den Horizont, denn nicht nur der persönliche Schicksalsschlag vom Tod des Vaters, welcher der Familie den finanziellen Rückhalt raubt, belastet die Aschmoneits, sondern auch die Erstarkung des Nationalsozialismus mit immer dramatischeren Auswüchsen. Ella muss ihren erstrebten Traumberuf an den Nagel hängen, da ein Studium nicht mehr möglich ist und ihre aufkeimende Leidenschaft für Victor Jacoby steht ebenfalls auf wackeligen Beinen. Als der Krieg schließlich mit voller Wucht in Königsberg wütet, lebt Ella bereits in Potsdam bei ihrer Schwester – doch in der Heimat wartet Wertvolles auf sie und der Hunger der Familie ist groß. Sie beschließt entgegen aller Warnungen nochmals zurückzukehren, um zu retten, was noch zu retten ist. Bis es immer schwieriger wird einen Zug zu bekommen, weil die Menschen in Heerscharen die Heimat verlassen und auch für Ella eine schmerzhafte Trennung bevorsteht …

 

Meinung

 

Auf Grund einer Leserempfehlung habe ich zu diesem interessanten Roman gegriffen, der nicht nur eine spannende Geschichte über eine junge Frau und deren Leben verspricht, sondern auch die Aufarbeitung einer Familiengeschichte vor dem Hintergrund des 2. Weltkriegs und insbesondere der Zerstörung der ostpreußischen Metropole Königsberg, aus der auch meine Großmutter väterlicherseits stammt.

 

Dieser Roman erfüllt dabei alle Voraussetzungen, die ich an ansprechende, unterhaltsame Belletristik stelle und malt nicht nur das schöne Bild einer für immer verlorenen Stadt, als diese sich noch in ihrem Glanz sonnte, sondern zeigt einmal mehr, wie zerstörerisch und vernichtend das zivile Leben während des Krieges war. Anhand der persönlichen Lebensgeschichte, die der Autor Ulrich Trebbin sehr ehrlich und liebevoll aufarbeitet und sie geschickt mit den historischen Ereignissen der Zeit verbindet, entsteht ein bewegender, sehr umfassender Einblick in die alltäglichen Belastungen, die heeren Träume, die erschütternden Wahrheiten und die traurigen Bilanzen einer ganzen Generation.

 

Dabei lebt dieses Buch durch und mit einer starken, unbeirrbaren Frau, die trotz aller Tiefschläge unbeirrt, ja manchmal regelrecht naiv ihren Weg beschreitet, um aus allen Entscheidungen und Verfehlungen ihre Lehren zu ziehen und nicht in Resignation und Starre zu verfallen, sondern beständig vorwärts zu schreiten. Gerade diese facettenreiche, lebhafte Hauptprotagonistin hat für mich einen wesentlichen Teil des Charmes dieses Buches ausgemacht. Denn einmal abgesehen von den ansprechenden Schauplätzen, den gut gezeichneten Nebenfiguren und den aufklärenden Hintergrundfakten, war es in erster Linie Ella, die mich für sich und ihr Leben einnehmen konnte.

 

Abwechslung und Vielfalt zeigt sich auch in den wechselnden Zeitebenen, die sich generell an persönlichen Stationen festmachen, die für ein Menschenleben entscheidende Wendungen bringen. Der Tod des Vaters, die leicht distanzierte Beziehung zur Jugendliebe, die Heirat mit der guten Partie, die nicht zwangsläufig auf Liebe basiert aber auch die Rückkehr in die zerstörte Heimat, das Vermissen der Verunglückten und die erbarmungslose Lücke, die der Krieg in zwischenmenschliche Beziehungen reißt – all das sind Themen, die nicht nur angeschnitten, sondern auch mit Leben gefüllt werden. Deshalb kann ich auch gut über einige langatmigere Passagen hinwegsehen, die sich mit dem Präparieren von Schmetterlingen oder der detaillierten Stadtbeschreibung befassen. Es passt alles gut zusammen und ergibt ein schlüssiges Bild.

 

Fazit

 

Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne (4,5 wenn man so möchte) für diesen individuellen, intensiven Roman, der für mich sowohl Zeitzeugnis als auch Lebensgeschichte darstellt. Er beschäftigt sich mit zahlreichen Themen, die manchmal zwar nur angeschnitten werden aber in ihrer Fülle und Gesamtwirkung unschlagbar sind. Ich empfehle das Buch all jenen, die Familiengeschichten lieben, die Menschenschicksale kennenlernen möchten, die wissen wollen, wie es in vergangenen Zeiten war, die sich mit Begriffen wie Herkunft, Heimat und Erinnerungen identifizieren können und die einen gelungenen Unterhaltungsroman suchen. Denn auf der Reise, die dieses Buch beschreibt, findet man sehr viel Menschlichkeit, viel Leid, viel Mut, viel Leben und die Gewissheit, das alles einen Sinn und Zweck erfüllt – sei es ein Einweckglas mit Schweinebraten oder eine vergilbte Fotografie mit welligen Rändern.