Rezension

Anspruchsvoll, theologisch-philosophisch, poetisch

Den Himmel finden
von Erri de Luca

Bewertet mit 4 Sternen

War Jesus ein Mensch, also ein normaler Mann mittleren Alters? Oder war er der Sohn Gottes? In seiner ungewöhnlichen, überaus tiefsinnigen und in der Sprache poetischen Erzählung „Den Himmel finden“, erschienen im Mai beim List-Verlag, versucht der italienische Schriftsteller Erri de Luca (68) die Antwort zu finden. Auf knapp 200 Seiten lässt uns der Autor seinen Protagonisten, einen namenlosen Bildhauer und Restaurator aus einem ebenso unbedeutenden Bergdorf, seine erstaunliche Geschichte erzählen.

Nach einem Streit mit seinen Freunden, mit denen er hilflosen Flüchtlingen auf unbekannten Bergpfaden über die Grenze geholfen hatte, verlässt der Erzähler sein Heimatdorf und sucht sich anderenorts Aufträge als Restaurator. Eines Tages erhält er von einem Priester die ungewöhnliche Aufgabe, eine lebensgroße Marmorstatue des gekreuzigten Jesus zu „entkleiden“. Der einstige Bildhauer hatte seine Skulptur nach eigenem Körper lebensecht geformt. Später war aber das Geschlechtsteil, die männliche „Natur“, wie es in der Erzählung heißt, schamvoll mit neuem Marmor überdeckt worden. Jetzt, nach Jahrzehnten der Verhüllung, soll der Penis des Gekreuzigten wieder freigelegt werden. Der Erzähler scheut sich zunächst vor dieser Arbeit, nimmt sich aber, nachdem auch der Bischof seine Zustimmung gegeben hat, dieses ehrenvollen Auftrags an.

Der Restaurator geht der Geschichte dieser Skulptur nach, sichtet alte Dokumente und findet sogar Bilder der nackten Statue. Darauf entdeckt er, dass der Penis des Gekreuzigten leicht erigiert war, wie es in den Minuten vor dem Tod durch Blutstauung ganz natürlich ist. So beschließt der Restaurator, Jesus nicht als theologische „Kultfigur“, sondern als leibhaftigen, lebensechten Mann darzustellen, zumal der ursprüngliche Bildhauer dies ebenso getan hatte, wie der Restaurator bei weiterer Untersuchung der Skulptur feststellt. Um seinen Auftrag perfekt ausführen zu können, beschäftigt sich der eher ungläubige Restaurator jetzt intensiv mit der Person des Gekreuzigten. Er fragt nicht nur den Priester nach Jesus aus, sondern auch einen Rabbiner und einen Moslem, die Jesus nicht als Gottes Sohn, wohl aber als Propheten kennen.

Während seiner intensiven Arbeit findet unser naturverbundener Restaurator, der nie zuvor sein Bergdorf verlassen hatte, zum wahren, zum natürlichen Glauben, zum Urchristentum. Für ihn sind christliche Tugenden wie Liebe und Barmherzigkeit selbstverständliche Eigenschaften eines reinen, unverdorbenen Menschen, der unser Restaurator zeitlebens war. Statt wie seine Freunde von den Flüchtlingen Geld zu nehmen, war für ihn diese Hilfe ein Akt der Barmherzigkeit. Während andere, vom Priester zuvor befragte Restauratoren im Auftrag der „Entkleidung“ eine Möglichkeit zur Steigerung eigenen Ansehens und Bekanntheitsgrades gesehen hatten, will unser Erzähler aus Ehrfurcht eher auf diesen Auftrag verzichten. Es geht ihm nicht um Prestige und schnöden Mammon.

Manche Kritiker von Erri de Luca halten seine Bücher wegen ihrer Bibelnähe für „theologischen Kitsch“. Dennoch zählt er zu den auflagenstärksten und preisgekrönzen Autoren Italiens. Auch sein Kurzroman „Den Himmel finden“ beschäftigt sich mit der Bibel und ist wahrlich keine Unterhaltungslektüre. Das Buch wird nicht jedem Leser gleichermaßen gefallen. Es kommt beim Lesen auf die eigene Offenheit für theologische Fragen an. Wer sich dafür interessiert, der wird an diesem Kurzroman seine Freude haben – schon allein wegen der poetischen, einfühlsamen Erzählung, wie der namenlose Restaurator während seiner Arbeit die Gefühle und Schmerzen jenes Mannes bei seiner Kreuzigung und dessen Wandel vom Mann zum anbetungswürdigen Heiligen nachzuempfinden versucht.