Rezension

Aphasie, kindliche Traumatisierung - und ein besonderer Logopäde

Dankbarkeiten - Delphine de Vigan

Dankbarkeiten
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Michèle Seld hat seit einiger Zeit Wortfindungsstörungen und leidet unter Schwindel. Als sie voller Panik den häuslichen Notrufknopf drückt, sagt sie zu der Person am anderen Ende „Ich verliere alles“. In kurzer Zeit verschlimmert sich ihr Zustand, so dass sie nicht mehr allein in ihrer Wohnung bleiben kann. Bisher wurde sie von Marie betreut, die „Michka“ seit deren Kindheit kennt und die mit den Sprachstörungen ihrer beginnenden Aphasie klarkommt. Für Außenstehende ist das schwieriger. Michkas Sprachzentrum funktioniert wie ein Setzkasten, in dem die Wörter verrutscht sind. Sie greift im Setzkasten ihres Wortschatzes ins falsche Fach – und man kann sie nur verstehen, wenn man ahnt, was sie erzählen möchte. Mit Hilfe von Marie wird ein Heimplatz für „Michka“ gesucht. Die alte Dame dreht endgültig das letzte Mal den Schlüssel zu ihrer Wohnung um – und zu ihrem unabhängigen Leben, das sie als Fotografin und Korrektorin einmal geführt hat.

Michkas beginnende Aphasie ist nicht das einzige Problem, sie erleidet Flashbacks in ihre Kindheit und Alpträume, in denen sie z. B. streng und herablassend von einer Gouvernante befragt wird, die Ähnlichkeit mit der Heimleiterin hat. Der Umzug ins Heim hat offenbar eine lange zurückliegende Traumatisierung aktiviert. Als der Logopäde Jerôme Michka regelmäßig betreut, um ihre Aphasie wenigstens aufzuhalten, macht seine Patientin deutlich, dass sie lieber mit ihm sprechen möchte als seine Übungsaufgaben zu lösen. Sie muss sich wie eine Erstklässlerin fühlen; denn Sprache war Teil ihrer  beruflichen Identität. Im Kampf gegen den Verlust ihrer Sprache versucht Michka nun, eine Schuld abzutragen. Als ihre Eltern längst von den Nationalsozialisten im KZ ermordet worden waren, hatten Nicole und Henri sie mehrere Jahre bei sich versteckt – und Michka hatte ihnen nie gedankt. Marie und Jerôme tragen jeder auf seine Art dazu bei, Michkas Geschichte ans Licht der Welt zu bringen und nach ihren damaligen Rettern zu suchen. Man kann sich leicht vorstellen, dass dazu um Michkas Traumatisierung einige Haken geschlagen werden müssen.

Delphine Vigan verknüpft hier auf weniger als 180 Seiten eine fortschreitende Aphasie, die vermutlich nie therapierte Traumatisierung eines jüdischen Kindes, die Probleme der beiden jüngeren Icherzähler Jerôme und Marie mit dem zeitlosen Thema Dank. Äußerst gelungen finde ich die Darstellung der Sprachstörung (auch in der Übersetzung ins Deutsche), die für die Patientin entwürdigend sein muss. Sie hört und begreift ja sehr gut, spricht jedoch nach einer Logik, die ein Zuhörer sich erst erkämpfen muss. Da Logopäden beklagen, dass ihr Beruf und Sprachstörungen generell selten in Romanen thematisiert werden, empfehle ich Interessierten den Roman gern.