Rezension

Atmosphärisches Prequel, das uns wieder in die Welt der Hungerspiele entführt.

Die Tribute von Panem X - Suzanne Collins

Die Tribute von Panem X
von Suzanne Collins

Ich halte "Die Tribute von Panem" für eine der besten Jugendbuchreihen, die jemals geschrieben worden sind. Sie spricht ungezwungen viele gesellschaftliche relevante Thematiken wie Woman Empowerment, Medienkritik, Diktatur und der Wert der Moral während des Kriegs an, durch die die junge Zielgruppe in den wichtigen Austausch untereinander treten und sich gegenseitig in ihrem angegriffenen Gerechtigkeitsempfinden stärken kann. Daher war sowohl meine Freude über die Ankündigung eines neuen Bandes als auch meine Erwartungshaltung gegenüber diesem Buch riesig. Ob es diese erfüllen kann, erfährst du in der folgenden Rezension.

 

Sowohl in der Literatur als auch in der Filmbranche lässt sich über die Notwendigkeit von Prequels, Sequels und Ergänzungen aller Art, die über den vorgesehenen Umfang einer Reihe hinausgehen, streiten und diese Frage nach der Daseinsberechtigung ist nicht selten ein großer Kritikpunkt in aktuellen Werken. "Das Lied von Vogel und Schlange" spielt gut vierundsechzig Jahre vor dem Beginn der Trilogie und porträtiert das Leben des jungen Coriolanus Snow. Ich finde, den Antagonisten des originalen Werks hier in den Fokus als Protagonist zu stellen, ist ein sehr geschickter Schachzug der Autorin und ermöglicht eine neue Perspektive auf das Szenario.

 

Der*die Leser*in erhält im vorliegenden Band zahlreiche spannende Hintergrundinformationen über einige Aspekte, die in "Die Tribute von Panem" nur an der Oberfläche behandelt wurden und über die ich gerne mehr erfahren hätte: Der Konflikt zwischen Distrikten und Kapitol und die damit verbundene soziale Ungleichheit wird besonders deutlich. Man*frau erfährt mehr über die Entstehungsgeschichte der Hungerspiele, die nicht immer ein mediales Massenspektakel waren, sondern sich zunächst erst etablieren mussten. Die moralische Auseinandersetzung mit diesem TV-Event gerät für meinen persönlichen Geschmack aber deutlich zu kurz: Woher nehmen sich die Veranstalter die Behauptung, dass sie gerecht sind? Viel mehr als autokratische Machtdemonstration und stumpfe Vergeltung für eine missglückte Revolution sind sie nicht, und die schalen Argumentationsversuche für eine Legitimierung derselben schlagen fehl.

 

Coriolanus Snow ist ein authentischer Protagonist, mit dem ich schnell warm wurde. Sein ständiger Ehrgeiz führte mir mehrfach deutlich vor Augen, zu welchem unerbittlichen Tyrann er sich noch entwickeln wird. Seine Freundschaft zu Sejanus, sei sie an einigen Stellen noch so unglaubwürdig, zeigt, wie sehr er Menschen zu seinem eigenen Profit ausnutzen kann. Jedoch ist auch so ein kaltblütiger Mensch wie er emotional angewiesen auf einige Menschen, die ihm am Herzen liegen - das zeigt uns dieses Buch. Während der solidarischen und liebevollen Momente zu seiner Cousine Tigris hallte ironischerweise mehrfach seine gezielt provokante Stimme in meinem Kopf nach, die sagt: "Miss Everdeen, es sind die Dinge, die wir am meisten lieben, die uns zerstören!" Die Frage, wie sich das Band zu seiner Familie, allen voran natürlich Tigris, so verändern konnte, wie es in "Flammender Zorn" der Fall ist, wird leider nicht erklärt.

 

Lucy Gray Baird tritt als fantasievoll-verträumte, aber durchweg tragfähige Hoffnungsfigur auf und ist die wohl sympathischste Figur des ganzen Buchs. Ich spürte, wie sehr ich innerlich mit ihr mitfieberte und meine ganzen Hoffnungen auf sie als Siegerin der zehnten Hungerspiele setzte. Diese erfährt man jetzt aus einer zweigeteilten Perspektive: Die geschilderten Ereignisse innerhalb der Arena und die Machtkämpfe der Mentoren außerhalb. An beiden Fronten entsteht eine Spannung, die die Leser*innen nicht loslässt. Ein weiteres faszinierendes Element an Lucy ist ihre Herkunft aus der distriktlosen Gruppe der Covey. In diesem Zusammenhang sei die an einigen Stellen etwas hölzern klingende Übersetzung erwähnt, die vor allem während der zahlreichen musikalischen Beiträge in dem Werk holpert.

 

"Die Tribute von Panem X" kreiert einige sehr berührende Gänsehautmomente, wenn essenzielle Momente der originale Reihe mit der Reise unseres Protagonisten aufeinander treffen. Genau hier kommt man auf Fan voll auf seine Kosten (die mit 26€ ein richtiger Wucher sind), denn das sind unbestritten die stärksten Momente. Dabei wirken diese verbindenden Elemente nicht erzwungen, sondern fügen sich geschmeidig in das Korsett der Haupthandlung ein. Zudem gehen einige explizite Darstellungen von Gewalt wirklich unter die Haut und repräsentieren schockierend die erbarmungslose Übermacht der Regierung, für die die Distriktbewohner im wahrsten Sinne nicht mehr als wilde Tiere sind und komplett entmenschlicht werden.

 

Dr. Gaul wird im vorliegenden Buch als eine Antagonistin deklariert, als das Gesicht des bösen Kapitols. Dabei ist sie als Figur stets schwer greif- und einschätzbar, was ihr zwar eine mysteriöse Maske verleiht, hinter der aber sämtliche Motive für den*die Leser*in verborgen bleibt. Viele Nebenfiguren werden leider ebenfalls recht oberflächlich ausgearbeitet und bieten nur wenig Identifikationsfläche. Aufgrund ihrer zusätzlich sehr komplizierten Namen bleiben sie nicht lange im Gedächtnis. "Das Lied von Vogel und Schlange" endet auf einen pessimistischen Ton, der Platz für mögliche Fortsetzungen gibt, die vorliegende Handlung aber ausreichend zu Ende führt. Ja, ich war zunächst etwas irritiert, finde aber, dass der Schluss realistisch erscheint und sehr gut passt.

 

Wenn man mich also schlussendlich fragt, ob ich "Die Tribute von Panem X" weiterempfehlen kann, dann lautet meine eindeutige Antwort: ja. Auch wenn das Werk teilweise etwas hinter meinen Erwartungen - und natürlich hinter der Qualität seiner Vorlage - zurückbleibt, handelt es sich hierbei noch immer um ein sehr gutes Buch, das viel mehr als bloßer Abklatsch ist. Nach nur wenigen Seiten fühlte man sich sofort wieder in den Bann geschlagen durch das packende Szenario und philosophiert über die ungerechten Zustände in diesem politischen System. Wer "Die Tribute von Panem" mochte, wird mit diesem Band ebenfalls seine helle Freude haben. Für mich gibt es daher eine definitive Leseempfehlung.

"Die Tribute von Panem X: Das Lied von Vogel und Schlange" ist ein atmosphärisches Prequel, das uns wieder in die Welt der Hungerspiele entführt und einen spannenden Bogen in die Vergangenheit einschlägt.

Wertung: 8 von 10 Punkten

★★★★☆