Rezension

Auf der anderen Seite des Meeres... wartet die Erkenntnis

Auf der anderen Seite des Meeres - Siobhan Dowd

Auf der anderen Seite des Meeres
von Siobhan Dowd

*Worum geht's?*
Holly Hogan und ihre Mam wollten immer nach Irland und dort ein neues Leben beginnen. Das junge Mädchen war glücklich bei ihrer Mutter, bis das Jugendamt die beiden vor langer Zeit trennte. Seither lebt Holly in Templeton House, einem Pflegeheim, und nur ihr Betreuer Miko schenkt ihr Kraft. Ist er nicht bei ihr, ist sie ein wahres Problemkind: Sie zerstört Dinge, hat sich nicht unter Kontrolle, raucht, schreit, beleidigt und vergrault somit jede ihrer bisherigen Pflegefamilien. Als Miko Holly eines Tages eröffnet, er würde Templeton House verlassen, bricht für Holly eine Welt zusammen. Auf Mikos Wunsch hin gibt sie einem letzten Ehepaar, Fiona und Ray, eine Chance und zieht bei ihnen ein. Dort findet sie eine blonde Perücke - und plötzlich ist Solace, das wilde Glamourgirl, in Holly erwacht! Voller Selbstbewusstsein nimmt Solace Reißaus und hat nur noch ein Ziel vor Augen: Ab nach Irland, denn dort wartet ihre Mutter auf sie! Davon ist Holly fest überzeugt...

*Kaufgrund:*
Nachdem ich "Sieben Minuten nach Mitternacht" gelesen hatte, das letzte Werk, das Siobhan Dowd leider selbst nicht mehr fertigstellen konnte, wollte ich unbedingt eine Geschichte von der Autorin selbst lesen und griff zu "Auf der anderen Seite des Meeres".

*Meine Meinung:*
Bei "Auf der anderen Seite des Meeres" handelt es sich tragischerweise um das letzte eigeneWerk von der wunderbaren Autorin Siobhan Dowd. Ich möchte bereits zu Beginn der Rezension betonen, dass ihr hiermit ein wahres Meisterwerk voller Gefühle gelungen ist. Von Glück und Liebe über Verzweiflung und Selbstüberschätzung - alles ist vertreten.

Zu Beginn des Romans befindet sich Holly bereits am Fährhafen und hat sich in ein Auto geschmuggelt, um bei der Überfahrt nach Irland nicht entdeckt zu werden. Soweit ist sie also schon gekommen! Ob sie es tatsächlich nach Irland und damit zu ihrer Mutter schafft oder nicht, erfahren wir allerdings nicht in den nächsten Seiten, sondern erst am Ende des Romans. Dowd geht nicht chronologisch vor, sondern macht einen großen Sprung in die Vergangenheit und erzählt uns Stück für Stück, wie Holly Leben bisher verlaufen ist, wie sie zu ihren neuen Pflegeeltern Fiona und Ray kam und natürlich auch, wie ihre Reise zum Fährhafen vonstatten ging. Es ist die pure Neugier, die den Leser dazu anstachelt, immer weiter zu lesen. Bereits nach dem ersten Kapitel hat Dowd eine so enge Bindung zwischen ihren Lesern und ihrer Protagonistin geschaffen, dass man das Buch nicht mehr beiseite legen möchte.

Holly, die vierzehnjährige Protagonistin des Romans, ist eine Vorzeigefigur, an der sich viele andere Autoren ein Beispiel nehmen sollten. Sie ist nicht perfekt, nicht die beliebteste und begabteste Schülerin, nicht das nette Mädchen von Nebenan. Ihre Persönlichkeit hat quasi keine runden Stellen, sondern besteht nur aus Ecken und Kanten! Geprägt durch ihre turbulente Vergangenheit, den Verlust ihrer Mutter und die ständig wechselnden Pflegeeltern ist sie zu einem Problemkind geworden, das lernen musste, für sich selbst stark zu sein. Sie schreit, zerstört Dinge, nimmt kein Blatt vor den Mund und ist dickköpfig. Sie spielt sich gerne etwas auf, um anderen gegenüber niemals Schwäche zu zeigen. Doch tief in ihrer Seele ist sie das liebenswürdige, verletzte kleine Mädchen, das nicht verstehen kann, warum das Jugendamt sie von ihrer Mutter getrennt hat. Sie sehnt sich nach Liebe und Zärtlichkeit, nach einer echten Familie, nach einem geregelten Leben und einer Person, die ihr Halt geben kann. Diese Gegensätze verarbeitet sie auf ganz eigene Art und Weise: Wenn sie bereit ist, Gefühle zuzulassen, ist sie Holly. Brauch sie Mumm und Selbstvertrauen, zieht sie ihre Perücke auf und lässt Solace für sich sprechen. Egal, welche Seite sie an den Tag legt, ihre kindliche Naivität hat sie noch nicht verloren. All diese facettenreichen Charakterzüge zeigen sich ebenfalls in ihrem Benehmen und ihrem Verhalten! Holly ist eine Figur, die aus dem realen Leben entsprungen sein könnte, und diese Authentizität macht sie zu etwas ganz besonderem!

Dowd hat den Fokus auf Holly gerichtet. Es gibt zwar einige Nebencharaktere, die durchaus wichtige Rollen spielen, doch insgesamt haben sie alle immer bloß recht kurze Auftritte. Oberflächlich sind sie dadurch jedoch keinesfalls! Auch sie haben ihre Stärken und ihre Schwächen, ihre Probleme und ihre Sorgen. Diese werden nur knapp und nebensächlich erwähnt, aber mehr hätte ich gar nicht hören wollen. Es sind einzigartige Schicksale, die nichts mit Holly zu tun haben. Und "Auf der anderen Seite des Meeres" ist schließlich Hollys Geschichte!

Siobhan Dowd hat es wahrhaftig geschafft, sich durch und durch in Holly hineinzuversetzen. Da die Geschichte aus Hollys Sicht geschrieben ist, erlebt man all ihre Gefühle und Gedanken hautnah - und ich war verblüfft, welch realistische Sprache die Autorin genutzt hat! Holly denkt, fühlt und redet, wie es pubertäre und eigensinnige Teenager in ihrem Alter eben tun. Oftmals verfehlen Autoren ihr Ziel, wenn sie ihre Figuren jugendlich gestalten wollen, und es schleichen sich Ausdrucksweisen ein, die völlig unangebracht wirken. Nicht so hier, denn Dowd hat ihren Charakteren stets die richtigen Worte in die Münder gelegt, ohne dabei jemals an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Sie war ein wahres Schreibgenie!

*Cover:*
Das Cover finde ich großartig. Darauf ist eine Straße zu sehen, die die A40 darstellen könnte, auf der Holly reist. Dem eingefügten Mädchen wehen ihre aschblonden Haare über das Gesicht. Eine tolle Lösung der Grafiker, um Protagonistin Holly auf dem Cover abzubilden und dem Leser trotzdem die Möglichkeit zu geben, sich von Holly ein ganz persönliches Bild zu machen.

*Fazit:*
Ein bewegendes, berührendes und emotionales Buch über die junge Holly, ihr schwieriges Leben und die Sehnsucht nach einer geregelten Familie. Nur Dowd konnte diese Geschichte so authentisch schreiben. Das Schicksal der Autorin tut mir noch immer in der Seele weh, denn sie hat aus ihren Romanen kleine Wunderwerke gezaubert. Ich vergebe 5 Sterne.