Rezension

Auf der Flucht

His Dark Materials: Über den wilden Fluss
von Philip Pullman

Bewertet mit 3.5 Sternen

Mein jüngeres Ich hat früher den ein oder anderen Ausflug mit einem Kanadier unternommen. In der Regel war der außen dunkelgrün und bot Platz für 2 bis 4 oder mehr Personen. Um vorwärts zu kommen, war ein Stechpaddel nötig und nach spätestens dreißig Minuten haben mich meine Schultern mit üblen Schmerzen für die einseitige Beanspruchung sonst nie genutzter Muskeln bestraft. Ich dachte lange, dass das Paddel so heißt wegen der stechenden Schmerzen. Der längste Ausflug ging über ein verlängertes Wochenende und weil sich das Wetter drehte, sind wir bis in die halbe Nacht gepaddelt, um trocken das Wochenendziel zu erreichen. Den Rückweg haben wir nur gepackt, weil wir mitten auf dem See von Motorkraft abgeschleppt wurden. Der Gegenwind war nämlich so stark, dass unser kraftvollstes Paddeln nur ausreichte, um nicht zurück getrieben zu werden. Mehrtägige Ausflüge mit einem Kanu habe ich seitdem vermieden oder ich bin auf den Typ Kajak ausgewichen. Der belastet beide Schultern wenigstens gleichmäßig. Warum schweife ich hier so ausführlich in meine Jugend ab? Weil mich Malcolm in Philip Pullmans Roman „Über den wilden Fluss“ über die Maßen beeindruckt hat. Der 11jährige paddelt nahezu jeden Tag auf seinem Heimatfluss nahe Oxford und muss sich im Verlauf der Handlung durch eine gigantische Flut mit seinem Kanu über mehrere Tage bis nach London durchkämpfen. Er hat zwar keine Wahl, als mit der Flut zu fahren, aber allein die Vorstellung auf einem reißenden Gewässer die Spur zu halten mit nichts als einem Paddel, lässt mich und meine Schultern erschauern.

Wer die Trilogie um Lyra und den Goldenen Kompass gelesen hat, wird sich sofort wieder heimisch fühlen in der Welt von Pullman. Für Neuentdecker ist das Buch ebenso geeignet. Seine Handlung beginnt ein gutes Jahrzehnt vor den Abenteuern von Lyra. Sie ist hier gerade wenige Monate alt und befindet sich in der Obhut von Nonnen in einem Kloster, das Malcolm regelmäßig besucht und dort Hilfsarbeiten für den Hausmeister oder die Nonnen ausführt. Zu Lyra hat er sofort eine innige Verbindung und will das kleine Wesen vor den Gefahren der Welt beschützen. Denn merkwürdige Gestalten tauchen seit einiger Zeit in dem Gasthaus von Malcolms Eltern auf und alle scheinen es irgendwie auf Lyra abgesehen zu haben. Doch Malcolm hat ein gutes Gespür für Menschen, ist neugierig und sehr schlau. Er kann die Guten von den Bösen unterscheiden, wird sogar eine Art Jungspion und ist schließlich der einzige, der Lyra vor der dem Oberschurken und der Flut beschützen kann. Zusammen mit Alice, der Küchenhilfe seiner Mutter, versucht er die kleine Lyra auf einer waghalsigen Tour durch wildgewordene Flüsse bis nach London zu ihrem Vater zu bringen.

Pullman bleibt seinem Fokus auf junge Hauptfiguren treu. Sie stehen an der Grenze zum Erwachsenwerden. Die Verbindung von Körper und Seele in Gestalt von Mensch und seinem Daemon in Tierform bildet das fantastische Grundprinzip der Welt, in der die Kirche eine große Machtstellung inne hat und wissenschaftliche Instrumente sogar die Wahrheit anzeigen können. Die Daemonen der Kinder haben sich noch nicht für eine endgültige Gestalt entschieden, sie können sich nach Belieben verwandeln und so geht gerade von den jungen Figuren eine aufregende Energie aus, die zusätzlich Spannung und Lebendigkeit in die Erzählung bringt. Die Rettung von Lyra vor den vielen bösen Verfolgern ist eine große Probe für Malcolm und Alice. Die Fahrt auf dem strudelnden Fluss liest sich wie eine Metapher auf das Erwachsenwerden. Der Übergang von der Kindheit in die aufgeklärte Welt der Erwachsenen verläuft eben nicht in ruhigen Gewässern, sondern bringt viele Fragen, Gefahren und Verwirrungen mit sich.

Dieser Ausflug in die fantastische Welt von Lyra mit Pantalaimon, Malcolm, Asta und der geheimnisvollen Theorie von Staub ist klug, einfühlsam und spannungsvoll erzählt. Wie gut, dass offensichtlich weitere Abenteuer folgen, nur für das Kanu wird es kein gutes Ende geben.