Rezension

Auf der Jagd nach ALLEN Wörtern

Grimms Wörter - Günter Grass

Grimms Wörter
von Günter Grass

Die Brüder Grimm erhalten im Jahr 1838 einen ehrenvollen Auftrag: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache sollen sie erstellen. Voller Eifer machen sie sich ans Werk. Aberwitz, Angesicht, Atemkraft fleißig sammeln sie Wörter und Zitate, in wenigen Jahren sollte es zu schaffen sein. Barfuß, Bettelbrief, Biermörder sie erforschen Herkommen und Verwendung, sie verzetteln sich gründlich. Capriolen, Comödie, Creatur am Ende ihres Lebens haben Jacob und Wilhelm Grimm nur wenige Buchstaben bewältigt. 
Günter Grass erzählt das Leben der Brüder Grimm auf einzigartige Weise als Liebeserklärung an die deutsche Sprache und die Wörter, aus denen sie gefügt ist. Er schreibt über die Lebensstationen der Märchen-Brüder, über ihre uferlose Aufgabe und die Zeitgenossen an ihrer Seite: Familie und Verleger, Freunde, Verehrer und Verächter. 
Spielerisch-virtuos spürt Grimms Wörter dem Reichtum der deutschen Sprache nach und durchstreift die deutsche Geschichte seit der Fürstenherrschaft und den ersten Gehversuchen der Demokratie. Von der Vergangenheit mit ihren politischen Kämpfen und ganz alltäglichen Sorgen schlägt Günter Grass manche Brücke in seine eigene Zeit. (Verlagsseite)

Als die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm im Jahr 1838 den Auftrag bekommen, ein deutsches Wörterbuch zu verfassen, wird diese Arbeit vor allem für Jakob zur Lebensaufgabe. Die Brüder wissen, dass ihre Lebenszeit nicht ausreicht, das Opus zu vollenden. (Tatsächlich wurde es erst in den 1960er Jahren als Gemeinschaftsarbeit ost- und westdeutscher Germanisten zu Ende gebracht.) Die Wortbedeutungen sind nebensächlich; die Brüder folgen vor allem der Etymologie jedes Wortes und forschen in literarischen Werken vom Althochdeutschen bis zu ihrer Gegenwart. Eine riesige Zettelwirtschaft wird bewältigt, Wilhelm schafft nur das D, Jakob stirbt während der Arbeit am F.
Grass begibt sich zu ihnen, begleitet sie und nimmt Anteil am Werden des Lexikons auch über den Tod der Brüder hinaus.

Diese "Begleitung" ist wörtlich zu verstehen: Grass spaziert mit ihnen durch den Berliner Tiergarten, hockt mit ihnen auf Parkbänken und am Schreibtisch, liest ihren Briefverkehr mit Verleger und Kollegen. Er räsoniert gemeinsam mit ihnen über Wörter zum jeweils aktuellen Buchstaben und macht Zusatzvorschläge: Worte, die es erst in der heutigen Zeit gibt.
Doch Grass wäre nicht Grass, würde er nicht auch sich selbst zum Thema machen. Mal assoziativ, mal Bezüge konstruierend erzählt er in Einschüben Begebenheiten, Anekdoten und Taten seines Lebens. Mal todernst oder wütend, mal selbstironisch und betrachtend, aber immer: unbescheiden und der eigenen Wichtigkeit bewußt. Doch ein Unterton ist nicht zu überhören: Das Wissen, dass sein Tod lauert. Ich vermute, dass Grass während des Schreibens die Furcht plagte, das Buch nicht mehr beenden zu können.
Auch die Buchstaben inspirieren ihn, erkennbar an den häufig verwendeten Alliterationen. Beim Buchstaben B erzählt er z.B. von der Freundschaft der Brüder mit Bettina von Arnim, von seiner Beziehung zu Heinrich Böll und seinem politischen Einsatz für Willy Brandt. Erwähnenswert sind die lyrischen Zwischentexte, wie man sie schon aus "Die Rättin" kennt, vom Autor "lyrische Engführung" genannt.

Bei Grass war Sprache schon immer mehr als Transportmittel für den Plot. Seine Sprache, sein unverwechselbarer Stil sind es, die aus seiner Literatur Kunst machen. In diesem Buch hat er noch eine Schippe draufgelegt: Sätze mit dreimal ineinander verschachtelten Nebensätzen, ein eigensinniger Einsatz diverser Verbformen und eine bisweilen abenteuerliche Wortwahl - literarisches Barock im 21. Jahrhundert. So wird Lesen zur Arbeit und Arbeit zum Vergnügen.