Rezension

Auf der Suche nach dem eigenen Ich

Das Glück kurz hinter Graceland - Kim Wright

Das Glück kurz hinter Graceland
von Kim Wright

Bewertet mit 4 Sternen

Laura Berry, die Elvis in seinem letzten Lebensjahr als Backgroundsängerin begleitet, kehrt nach dessen Tod Hals über Kopf in ihre Heimatstadt Beaufort zurück. „In wahnsinniger Eile war sie nach Hause gerast, weil ihr plötzlich klar geworden war, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht hätte sie doch nicht als Backgroundsängerin auf Tour gehen [...] und den strahlenden Lichtern des Rock'n'Roll hinterherjagen sollen. Vielleicht wäre sie besser zu Hause geblieben und hätte den Jungen von nebenan geheiratet, den, der sie so sehr liebte, dass er ihr noch am selben Abend, als beide ihren Highschoolabschluss [...] in der Tasche hatten, einen Heiratsantrag machte. Aber das hatte sie damals nicht begriffen. Sie war blind dafür gewesen, dass ihr wahres Schicksal direkt vor ihr stand. Sie war achtzehn, und sie musste sich etwas beweisen.“

Bradley verzeiht ihr. „Statt einer Antwort hob er sie hoch und wirbelte sie herum.“ Gleich am nächsten Tag heiraten sie. „Der Rest ihres Lebens spulte sich ab wie Seide, ein schönes Ereignis folgte dem anderen, genau so, wie sie es geplant hatten.“ Und über dieses eine Jahr wird nicht mehr gesprochen, auch nicht Cory Beth gegenüber, die sieben Monate später als „Frühchen“ zur Welt kommt. Erst mit 37 Jahren, nach dem Tod Lauras soll Cory der nie erzählten Wahrheit auf die Spur kommen. Ein unwiderlegbares Indiz für ihren seit langem gehegten Verdacht, Elvis Presley sei ihr leiblicher Vater, wird von ihr entdeckt: ein schwarzes Coupé, das unweigerlich dem King of Rock'n'Roll einst gehört haben muss.

Mit Hilfe der sich in dem Blackhawk befindenden Gegenstände fährt Cory die Route rückwärts nach, die ihre Mutter vor 38 Jahren genommen hatte. Auf dem Weg nach Graceland liest sie nicht nur einen streunenden Hund auf, der zu einem wichtigen Weggefährten wird, sondern lernt auch die Menschen kennen, die einst eine wichtige Rolle im Leben Laura Berrys gespielt haben. Stück für Stück setzt sie das Puzzle zusammen...

Kim Wright lässt uns sowohl an Corys Innenleben als auch an dem Lauras teilhaben, indem sie die Erlebnissequenzen der Tochter mit denjenigen der Mutter abwechselnd präsentiert. So legt der Leser die Reise von South Carolina nach Memphis nicht nur auf linearem Weg mit Cory zurück, sondern auch mit Laura auf rückwärtige Weise, in die jeweils weiter zurückliegende Vergangenheit. Auf diese Weise wird nichts vorweggenommen, sondern das, was Cory erarbeitet durch Lauras Versatzstücke bestätigt und erweitert.

Was zunächst als Suche nach dem leiblichen Vater anmutet, stellt sich im Nachhinein als Versuch heraus, die eigene Mutter besser verstehen zu lernen. „Ich dachte, ich wäre auf diesem absurden Roadtrip, um meinen Vater zu suchen, aber inzwischen glaube ich, dass ich eigentlich auf der Suche nach meiner Mutter bin, um herauszufinden, wer sie wirklich war.“ Und damit auch auf der Suche nach dem eigenen Ich, denn „wir sind nicht nur unsere Biologie. [...] Am Ende sind die Menschen das, wofür sie sich entschieden haben.“

Bei "Das Glück kurz hinter Graceland" handelt es sich quasi um einen Bildungsroman im Kleinen: Cory legt nicht nur eine Strecke zurück, die sich in Kilometern berechnen lässt, sondern entwickelt sich mit jeder gesammelten Erfahrung und Erkenntnis weiter. Sie ist am Ende eine andere Person, als sie es zu Anfang gewesen ist. „»Was denken Sie, woher haben Sie diese startaugliche Stimme? Wer hat sie Ihnen mitgegeben?« Noch vor wenigen Tagen hätte ich gesagt, die habe ich von Elvis. Aber das war vor vier Tagen und anderthalbtausend Kilometern. »Keiner«, sage ich. »Die habe ich mir selbst gegeben.«"