Rezension

Auf die schmerzvollste Art schön

Die schönste Version -

Die schönste Version
von Ruth-Maria Thomas

Bewertet mit 4.5 Sternen

TW: häusliche und sexualisierte Gewalt

Ruth-Maria Thomas hat hier ein unglaublich schmerzvolles und intensives Debüt geschaffen, mit dem ich mich in Teilen viel zu stark identifizieren konnte.

Jella und Yannick führen eine Beziehung, die gesellschaftlich gern als „leidenschaftlich“ bezeichnet wird. Die Autorin zeichnet in „Die schönste Version“ auf zwei Zeitebenen eindrücklich die Dynamiken einer toxischen Beziehung. Wie konnte es dazu kommen, dass Jella trotz einer zu Beginn so wunderschön erscheinenden Partnerschaft eines Tages auf dem Polizeirevier sitzt und Anzeige erstattet - mit den Würgemalen noch am Hals?

Dabei behandelt der Roman nicht nur, warum Frauen in gewaltvollen Partnerschaften bleiben, sondern auch das Aufwachsen als Frau in einer durch und durch misogynen Gesellschaft. Das Setting einer Kleinstadt in der Lausitz während der 00er-Jahre setzt der Handlung für mich persönlich das Krönchen auf. Die Perspektivlosigkeit junger Menschen in dieser strukturschwachen Gegend aber auch die Verbundenheit mit ihr ist immer wieder spürbar.

Thomas zeichnet komplexe, ambivalente und nahbare Charaktere. Jella bemüht sich entsprechend der patriarchalen Erwartungen von Anfang an darum, Männern zu gefallen. Ihre ersten sexuellen Erfahrungen sind entsprechend so schrecklich wie sie nur sein können. Bei allen Fragen, die sie sich danach stellt, war mir schlecht vor Wut und Trauer. „Ist wirklich etwas passiert? War es denn überhaupt so schlimm? Hätte ich klarer kommunizieren müssen?“ In welcher Welt leben wir, dass Gewaltopfer sich diese Fragen stellen - und warum hat sich das einfach kein Stück verändert? </3

Doch Jella ist auch impulsiv, verletzt andere Menschen, während sie versucht, die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen. Das macht sie für mich als Figur unglaublich spannend und greifbar. Gleichzeitig schafft es die Autorin, niemals ernsthaft zu vermitteln, Jella sei auch nur in Teilen mitschuldig an dem, was ihr passiert. Das halte ich für ein großes Talent, denn die Protagonistin wird mit diesen Fragen ständig konfrontiert. Wieder und wieder zeigen sich außerdem ihre Traumata und das schiere Ausmaß derer hat mich zerstört. :(

Wir begleiten Jella während der 11 Tage nach der Tat. Ihren Freundinnen öffnet sie sich erst extrem spät und während auch dieser Punkt mir so unfassbar weh getan hat, war das Thema Freundinnenschaft immer wieder auf heilsame Art präsent.

Und so lässt mich der Roman auch zurück: mit schmerzendem, aber auch irgendwie geheiltem Herzen und der Frage, warum ich so viel Lebenszeit mit den unerreichbaren Idealen des Patriarchats verschwendet habe statt mit meinen Freundinnen eine gute Zeit zu haben. Ich bin beeindruckt vom Schreibstil der Autorin, auch wenn er phasenweise aufgrund seiner fragmentarischen Art herausfordernd war. Doch das passt meiner Meinung nach perfekt zum Inhalt, welcher ebenso Zeit und Raum zum Reflektieren braucht. Ein Text, der einfach weggeatmet werden kann, hätte dem widersprochen.

Achtet auf die Triggerwarnungen, aber lest dieses Buch, wenn ihr könnt. Ich denke, es kann ganz viele Menschen erreichen. Ob mit oder ohne Gewalterfahrung, ob Millenial oder nicht. Die grundlegenden Dynamiken haben sich leider nicht merklich verändert. 2023 waren 70,5 % aller Opfer häuslicher Gewalt weiblich. Jeden Tag versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu ermorden, jeden 3. Tag gelingt es ihm. Wir müssen Betroffenen glauben und dürfen ihnen keine Schuld zusprechen, denn kein Mensch hat das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen oder es zu bedrohen. Genau das vermittelt der Roman auf die schmerzvoll-schönste Art. <3