Rezension

Aufwühlend

Vater unser
von Angela Lehner

Bewertet mit 5 Sternen

Ich las den Roman zweimal, mit ein paar Tagen Abstand dazwischen. Beim ersten Mal las ich ihn recht zügig, weil ich unbedingt wissen wollte, was nun eigentlich warum passiert. Ein wenig nervte mich nämlich das Nebulöse und ich wollte schnellstmöglich Licht ins Dunkle bringen. Doch dann verstand ich das Ende nicht so ganz bzw. verwirrte es mich sehr. Deshalb las ich den Roman ein zweites Mal und so setzte sich dann Puzzleteil für Puzzleteil zusammen. Und dennoch blieben Fragen offen. Der Roman bietet also durchaus Interpretationspielraum und Diskussionspotential.

Eva, Mitte zwanzig, ist in die Psychiatrie nach Wien eingewiesen worden. Dort ist auch schon ihr etwas jüngerer Bruder Bernhard. Bernhard hat Magersucht. Aufgrunddessen befand er sich schon in der Vergangenheit mehrfach in Behandlung. Eva möchte ihm helfen, ihn retten. Aber er verweigert erstmal den Kontakt. Und ihr selbst geht es eigentlich auch nicht so besonders gut. Sie beide teilen ein schwieriges Elternhaus und traumatisierende Erfahrungen.

Der Roman besteht aus 3 Teilen (Der Sohn. Der Vater. Der Heilige Geist.), wobei die Geschichte stringent erzählt wird. Die Hauptprotagonistin steht im Mittelpunkt und sie erinnert sich immer wieder an Situationen aus der Vergangenheit. Den Klappentext finde ich allerdings etwas irreführend, da es hier nicht vorrangig um das Lügen und Manipulieren geht, sondern letztendlich um einen Heilungsversuch.

Ich mochte diesen frischen, frechen und direkten Ton, der mich vor allem die erste Hälfte des Buches sehr amüsierte! Ein klarer und ironischer Blick betrachtet Österreich und seine Institutionen. Jeder bekommt hier sein Fett weg: die Kirche, Haider, die Kronen Zeitung, die Psychiatrie, die (Dorf-)Gesellschaft, die nichts sieht, nichts hört und nichts sagt.

Mit einem scharfen Blick wird Gegebenes in Frage gestellt, werden psychologisch interessante Beobachtungen getätigt und das alles in einer wirklich sehr tollen Sprache!

Zum Ende hin wird der Ton etwas ernster, es wird bitter, es wird traurig. Das Lachen verging mir allmählich und wich eher dem Mitgefühl für Eva und ihren Bruder. Beide traumatisiert, beide innerlich sehr verletzt. Die Schicksale berührten mich sehr, auch die Beziehung zwischen den beiden bzw. der unermüdliche Versuch Evas, eine Beziehung zu Bernhard aufzubauen.

Das Ende empfand ich wirklich als tragisch, traurig und schwer, es zog mich runter und verwirrte. Davon musste ich mich dann erst mal erholen.

Die Geschichte ist in sich rund und gut erzählt. Einiges liegt zwischen den Zeilen.

Die Figuren fand ich sehr authentisch gezeichnet. Etliches bleibt nur angedeutet und ja, ich hätte mir doch mehr Klarheit gewünscht. Hätte mir mehr klare Fakten z.Bsp. über die Eltern gewünscht. Das wäre für mich als Leser bequemer und einfacher gewesen. Irgendwo las ich, dass hier der Leser in die Rolle des Psychiaters rutscht und irgendwie stimmt das. Man erfährt alles subjektiv, bruchstückhaft und muss sich selbst zusammen reimen, was nun wahr ist, was tatsächlich passiert ist und muss versuchen, hinter die Fassade der Figuren zu schauen.

Zu Recht für eine Vielzahl von Preisen nominiert!